TV-Serie:
Chernobyl
Serien-Kritik von Yannic Niehr (06.2020) / Titelbild: © Sky UK Ltd/HBO
Der Preis der Lüge
01:23:45: eine Explosion im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl benannt nach W. I. Lenin erschüttert in der Nacht des 26. April 1986 die naheliegende Gemeinde Pripjat, welche vorrangig Mitarbeiter des Werks mit ihren Familien beherbergt. Die Feuerwehr rückt in Rekordzeit an, um den auf dem Dach wütenden Brand zu löschen, und es ist zunächst die Rede von einer kleineren Fehlfunktion – gemessen wurden 3.6 Röntgen („nicht erfreulich, könnte aber schlimmer sein“) und es bestehe keinerlei Grund zu größerer Sorge, so heißt es. Professor Waleri Alexejewitsch Legasov (Jared Harris) vom Kurtschatow-Institut für Atomenergie, den man nach Einberufung eines Untersuchungskomitees als Experten in beratender Funktion hinzuzieht, wird aufgrund bestimmter Passagen im Bericht jedoch sofort hellhörig. Gemeinsam mit dem Leiter der Kommission, Parteifunktionär Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård), darf er die Lage bald aus der Nähe begutachten, und schnell wird klar: es hat nicht nur eine Pumpe getroffen - es ist der Kern selbst, der in die Luft geflogen ist, und das ganze Gebiet ist von einer gefährlichen Strahlendosis erfasst.
Auch die Wissenschaftlerin Ulana Khomyuk (Emily Watson) wird schnell misstrauisch ob den von der Staatsspitze offiziell verbreiteten Zahlen und Fakten. Während sie Überlebende interviewt, um den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren zu können, stehen Legasov und Schtscherbina vor der schier unlösbaren Aufgabe, die katastrophalen Auswirkungen des Unfalls einzudämmen. Und es ist nicht nur die Zeit, die dabei gegen sie arbeitet …
Vnimanie, Vnimanie!
Der Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl gehört zu den wohl größten modernen Desastern. Von einem Moment auf den anderen mussten die Bewohner der betroffenen, heute mehrere hundert Quadratkilometer umfassenden Sperrzone evakuiert werden („vorübergehend“, hieß es – in Wahrheit wird dort auf Jahrhunderte wohl niemand mehr leben können). Pripjat ist eine der berüchtigtsten Geisterstädte der Welt. Heute bedeckt eine Kuppel aus Blei die Stelle, an der sich einmal der Kernreaktor befand. Doch bis dahin war es ein langer und beschwerlicher Weg voller Opfer …
Das aus heutiger Sicht für viele sicherlich etwas abstrakte historische Ereignis wird in dieser Serie plastisch, real und fühlbar gemacht. Dabei geht es Schöpfer Craig Mazin weniger um einen exakten Tatsachenbericht (wobei die Liebe zum Detail beachtlich ist; die Produktion kann sich sehen lassen), sondern um die Umsetzung eines packenden History-Thrillers mit Elementen des Dramas und der Gesellschaftskritik – eine Mischung, die aufgeht. Mancher mag den Machern Geschmacklosigkeit vorwerfen ob des menschlichen Leids, das hier ausgeschlachtet wird – doch auch wenn die tödlichen Folgen der Strahlung alles andere als geschönt werden, ist Chernobyl kein geistloser Reißer, dem es um Schock und Spannung um jeden Preis geht. Vielmehr stehen hochbrisante und zeitlose Konflikte im thematischen Mittelpunkt: individuelle Ambitionen gegen das Wohl aller, politische Interessen gegen die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit. Diese Konflikte werden auf dem Rücken des Durchschnittsbürgers ausgetragen, der von Väterchen Staat, der sich nur ja keine Blöße geben will, über das wahre Ausmaß der Katastrophe im Dunkeln gelassen wird. Selbst der KGB schaut Legasov und Schtscherbina auf die Finger, während sie immer neue Mittel und Wege finden müssen, die Auswirkungen des Unglücks zu beheben – es sollen ja nicht die falschen Informationen nach außen gelangen. Die Anzahl staatstreuer und selbstloser Menschen, die helfen müssen und im Zuge dessen regelrecht „verheizt“ werden, ist erschreckend hoch.
Saurer Regen, saure Erde
90 Sekunden: mehr bleibt den Männern nicht, um die Graphitblöcke vom am stärksten verstrahlten Dachabschnitt des Kraftwerks zu räumen; danach sind sie von der Höchstmenge an Strahlung durchdrungen, der ein Mensch in seinem ganzen Leben ausgesetzt sein sollte. Und trotz dieser Sicherheitsmaßnahme, trotz der Schutzanzüge werden sie sich wohl bewusst sein, dass sie unter Umständen mit furchtbaren Spätfolgen rechnen müssen. Es wird gerannt, es wird mit Schaufeln gearbeitet, es wird geschwitzt, gekeucht und gestolpert – und immer wieder schwillt das Knistern des Geigerzählers zu einem penetranten Kreischen an. Schließlich ertönt der Gong, und ihr Dienst wird quittiert mit den mehrdeutigen Worten: „Ihr seid fertig!“
Diese Szene ist nur ein Beispiel dafür, wie meisterhaft Chernobyl inszeniert ist. Der bedrückende Ostblock-Charme, die beklemmende Atmosphäre – allem voran mit ihrer Stimmung kann die Miniserie punkten. In einer Einstellung versammeln sich die schaulustigen Bewohner von Pripjat auf einer Eisenbahnbrücke, um dem Brand aus (vermeintlich) sicherer Entfernung beizuwohnen. In Zeitlupe, umgeben von geisterhaftem Flimmerlicht, spielen ihre Kinder in der Asche, die herüberweht – über sie alle ist längst das Todesurteil gefallen, ohne dass sie es ahnen. In einer anderen Einstellung wird Sitnikov (Jamie Sives), einer der beim Unfall ebenfalls zugegen gewesenen Kraftwerksmitarbeiter, auf das Dach zitiert, um mit eigenen Augen bestätigen zu können, dass wirklich der Reaktor selbst explodiert ist. Innerhalb von Sekunden färbt sich sein Gesicht rot, und er weiß sehr wohl, was die Stunde geschlagen hat. Das Loch, wo sich einmal der Kern befand, wirkt wie der leibhaftige Höllenschlund, der kontinuierlich eine unsichtbare, aber alles vernichtende Macht verströmt, mit welcher Menschen niemals herumspielen sollten. Von solchen Gänsehautmomenten wimmelt es in der Serie, und meist werden sie unterstrichen von der wuchtig-düsteren und dennoch subtilen Musik von Joker-Komponistin Hildur Guðnadóttir, deren unterschwellig wummernde Bässe das unheilvolle Dröhnen des Kernreaktors nachbilden. Das alles ist so gut gemacht, dass es manchmal regelrecht auf den Magen schlägt – eine Gute-Laune-Sendung ist Chernobyl definitiv nicht.
Wie explodiert ein RBMK-Reaktor?
Ausgehend von einer gut einstimmenden, wenn auch nicht allzu originellen Szene, die 2 Jahre später angesetzt ist, werden anschließend sozusagen im Flashback mit unnachgiebig nüchterner Konsequenz die Minuten, Stunden, Tage und Monate geschildert, die dem Vorfall folgen – eine Chronik zunächst des verzweifelten Chaos im Inneren des Kraftwerks, schließlich dann der großangelegten Evakuierung Pripjats, der komplexen und vom Pech verfolgten Räumungsarbeiten sowie der globalpolitischen Folgen. Jared Harris trägt die komplette Serie fast alleine auf seinen Schultern: sein Legasov ist eine unaufgeregt gezeichnete, nuanciert tragische Figur.
Stellan Skarsgård gibt einen würdigen Gegenpart mit einer glaubhaften Darstellung des Schtscherbina, der eine brillante Entwicklung vom distanzierten Zahnrad des sozialistischen Sowjetstaates zum glühenden Verfechter der ihn bewohnenden Individuen durchmacht. Der unsympathische Vorgesetzte Djatlow (Paul Ritter), der schmierige Werksdirektor Brjuchanow (Con O’Neill) sowie Chefingenieur Fomin (Adrian Rawlins) geben ein dynamisches Dreiergespann, das nicht wirklich wahrhaben will, was tatsächlich passiert ist – und das am Ende genauso Opfer der Umstände ist wie alle anderen auch. Abgerundet werden sie von einem bis in die kleinsten Nebenfiguren mit großartigen Schauspielern besetzten Ensemble. Lyudmilla Ignatenko (Jessie Buckley) und ihr an den Löschungsarbeiten beteiligter Ehemann Wassili (Adam Nagaitis) müssen ein besonders schreckliches Martyrium durchstehen. Sie stehen stellvertretend für das von der Katastrophe verursachte Leid des kleinen Mannes, dem in einprägsam poetischen Szenen mit zum Nachdenken anregenden Dialogen über menschliches Verhalten in Ausnahmesituationen immer wieder Raum gegeben wird – getragen z.T. von Darstellern, die nur in einer Folge auftauchen dürfen und dennoch einen Eindruck hinterlassen.
In der letzten Episode findet schließlich der Prozess statt, bei welchem der Unfallhergang aufgerollt und auch für den Zuschauer in ein ganz neues Licht gerückt wird: liegt die Verantwortung, die zuvor so fleißig geleugnet sowie hin- und hergeschoben worden ist, zumindest zum Teil vielleicht doch in ganz anderen Händen als anfangs vermutet? Als mindestens so verheerend wie die Kettenreaktion innerhalb des Kerns stellt sich die Kettenreaktion menschlichen Fehlverhaltens (aber auch menschlicher Arroganz und Ignoranz sowie politischen Kalküls) um ihn herum heraus. Jeder Zuschauer darf am Ende der Serie selber entscheiden, ob für ihn die zentrale Frage nunmehr zufriedenstellend beantwortet ist: die Frage danach, wie hoch der Preis der Wahrheit ist – und der Preis der Lüge.
Fazit:
Wird die Serie dem Hype gerecht? Welches Werk kann das schon von sich behaupten … Aber sie ist spannender als mancher Krimi, verstörender als mancher Horrorfilm, und hat darüber hinaus noch einiges zu sagen über den menschlichen Zustand und die Lage der Welt. Es wäre ein folgenschwerer Fehler, Chernobyl nicht zu schauen!
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Chernobyl
- USA, UK
- VÖ Blu-Ray: 6.9.19
- SISTER PICTURES / THE MIGHTY MINT
- Regie: Johan Renck
- Drehbuch: Craig Mazin
- Schnitt: Jinx Godfrey, Simon Smith
- Kamera: Jakob Ihre
- Musik: Hildur Guðnadóttir
- Länge: 5 Folgen à je ca. 60 Minuten
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