Katja Hübner

04.2021 In Ihrem aktuellen Buch "Okay, danke, ciao!" beschreibt Katja Hübner ihre Erfahrungen von einer zufälligen Begegnung und einer Impulsentscheidung, die zu einer unerwarteten Freundschaft und einem echten Wandel im Leben eines jungen Mannes führen, der schon ganz unten angekommen war - einem Obdachlosen aus dem Hamburger Schanzenviertel.

"Mir wurde nach und nach bewusst, dass sich gerade Ungewöhnliches in meinem Leben abspielt."

Sachbuch-Couch.de:
Liebe Frau Hübner, bislang waren Sie als Grafikdesignerin tätig. Wieso hat gerade dieses Thema Sie dazu inspiriert, zur Autorin zu werden, und wie hat sich der Schreibprozess für Sie gestaltet?

Katja Hübner:
Ich habe damals viel über die Geschichte geredet, weil sie mich natürlich auch sehr beschäftigt hat. Da ist mir dann aufgefallen, dass wirklich jeder dieses Thema spannend und berührend fand. Mir wurde nach und nach bewusst, dass sich gerade Ungewöhnliches in meinem Leben abspielt. Erstmal wollte ich das festhalten und das Aufschreiben dieser Geschichte hat mir gut getan - man wird ja auch einiges los beim Schreiben. Dass es am Ende als Buch veröffentlicht wurde, ist das Resultat einiger schöner Zufälle.

Sachbuch-Couch.de:
Sie erwähnen, dass sie zu den Leuten gehören, die etwas überempathisch sind und sich oft vom Leid anderer mit runterziehen lassen, ohne dass damit irgendjemandem geholfen wäre. Wie gehen Sie mit diesem Persönlichkeitsmerkmal um, und wie kann man es Ihrer Ansicht nach am besten zu der Ressource machen, die es eigentlich ist?

Katja Hübner:
Mir war diese Eigenschaft lange Zeit gar nicht so bewusst. Aber wenn man erstmal die Zeit der unbekümmerten Jugend hinter sich hat, nehmen die Probleme und Sorgen oft auch bei Freunden und Bekannten zu. Irgendwann habe ich einfach gemerkt, dass ich mich zu sehr vom Leid meiner Mitmenschen mitziehen lasse und dass das dann eben niemandem etwas bringt. Deshalb achte ich inzwischen ganz bewusst darauf nicht jedes Problem in meinem Umfeld zu meinem eigenen werden zu lassen. Das hindert mich aber nicht daran, trotzdem zuzuhören und für den Moment Empathie zuzulassen.

Sachbuch-Couch.de:
Sie sprechen im Buch auch ganz offen einen gewissen, anfangs empfundenen Ekel gegenüber dem ungewohnten Mangel an Körperhygiene an, den die Wohnungslosigkeit mit sich bringen kann. So traurig es ist, können das vermutlich viele Menschen nachempfinden. Wie kann man Ihrer Meinung nach die eigenen Hemmschwellen überwinden, Vorurteile abbauen und dem Stigma der Unsichtbarkeit begegnen, das Obdachlosen oft anhaftet?

Katja Hübner:
Ein freundlicher Blick, ein „Hallo“ im Vorbeigehen kann glaube ich schon viel bewirken. Daraus muss ja erstmal nichts weiter entstehen, aber es schafft zumindest die Möglichkeit einer Begegnung.

Sachbuch-Couch.de:
Ihre Erzählung endet Mitte 2020. Welche Auswirkungen hat die aktuelle Corona-Lage Ihrer Einschätzung nach auf die Lebenssituation von Obdachlosen?

Katja Hübner:
Die Innenstädte sind menschenleer, hier in Hamburg gilt eine Ausgangssperre ab 21 Uhr. Die Obdachlosen dürfen natürlich draußen bleiben und werden noch unsichtbarer. Im ersten Lockdown wurden leerstehende Hotels für sie geöffnet, was jetzt in den kalten Wintermonaten nicht wiederholt wurde. Sie werden auch von der Politik vollkommen alleine gelassen.

"Ein freundlicher Blick, ein „Hallo“ im Vorbeigehen kann glaube ich schon viel bewirken. "

Sachbuch-Couch.de:
In Ihrem Buch bleibt nicht unerwähnt, dass der Anteil an psychischen Erkrankungen unter Obdachlosen sehr hoch ist. Damit legen Sie den Finger auf eine wichtige Schnittstelle. Was müsste sich Ihrer Ansicht nach ändern, damit Menschen die benötigte Hilfe zuteilwerden kann, und wie kann man sich am sinnvollsten selber engagieren?

Katja Hübner:
Wir brauchen dringend eine aufsuchende Psychiatrie, nicht nur für psychisch Kranke Menschen in ihren Wohnungen, sondern auch für Obdachlose. Die meisten von ihnen haben ja feste Schlafplätze und das was ich für Marc getan habe - kontinuierlicher Kontakt, Aufbau von Vertrauen - sollte eigentlich auch Aufgabe der Psychiatrie sein. Natürlich wäre privates Engagement zusätzlich wünschenswert.

Sachbuch-Couch.de:
Wie geht es Marc heute?

Katja Hübner:
Marc lebt inzwischen in einer betreuten Wohngruppe. Dort wird darauf geachtet, dass er regelmäßig seine Medikamente nimmt, er hat ein eigenes Zimmer und tägliche Mahlzeiten. Vor Beginn der Pandemie hat er uns im Schnitt jedes zweite Wochenende besucht, das hat sich im letzten Jahr leider sehr reduziert. Aber wir telefonieren regelmäßig und ich würde sagen, es geht ihm ganz gut.

Das Interview führte Yannic Niehr im April 2021.
Foto: © Florian Weinert/ Penguin Random House

Katja Hübner auf Sachbuch-Couch.de:

Film & Kino:
Chernobyl

Der Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl gehört zu den wohl größten modernen Desastern. Das aus heutiger Sicht für viele sicherlich etwas abstrakte historische Ereignis wird in dieser Serie plastisch, real und fühlbar gemacht. Titelbild: © Sky UK Ltd/HBO

zur Serien-Kritik