ZOV – Der verbotene Bericht

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Thomas Gisbertz
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Sachbuch-Couch Rezension vonDez 2022

Der Herren Sünde, der Bauern Buße

Was weiß man wirklich über den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine? Was darf man tatsächlich glauben? Dass der Krieg kein Spiel oder eine spannende NETFLIX-Serie ist und schon gar nichts mit der Darstellung in den russischen Medien zu tun hat, zeigt nun der ehemalige Fallschirmjäger und Elitesoldat Pawel Filatjew eindrucksvoll in seine Bericht „ZOV“. Er war beim russischen Überfall auf das Nachbarland und beim Angriff auf Cherson dabei. Nach zwei Monaten an der Front wurde er verletzt, drohte aufgrund einer Augenverletzung zu erblinden - und entschied sich im Lazarett, über das zu berichten, was er erlebt hat: überforderte, ja unfähige  Befehlshaber, schlechter Ausrüstung, Planlosigkeit, Chaos, die schlechte Ausbildung in der Armee, Korruption. Es ist eine schonungslose Abrechnung mit dem System Putin.

Leben als Soldat

Unteroffizier Pawel Filatjew, 6. Luftsturmkompanie, 2. Luftsturmbataillon, 56. Luftsturmregiment, 7. Garde-Luftsturmdivision. Fallschirmjäger und Zeitsoldat. Einsatz im 2. Tschetschenien-Feldzug, später stationiert auf der Krim. Pawel Filatjew stammt aus einer Soldatenfamilie, sein Urgroßvater war ein ukrainischer Kulak, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, sein Vater, der in zahlreichen russischen Kriegen gekämpft hat, starb an Krebs. Filatjew hat als Soldat gelernt, Befehle auszuführen. Für ihn wäre es einer Schande gleichgekommen, sich zu weigern, an der „militärischen Aktion“ gegen die Ukraine nicht teilzunehmen. Aber er wird enttäuscht - nicht von den anderen Soldaten, sondern von den „Männern an der Spitze“, denen man das Vertrauen geschenkt hat und von denen man erwartet, nicht Menschen zu töten, sondern das Land und seine Völker zu schützen und den Wohlstand sowie das Ansehen des Landes zu mehren.

Ringen mit sich

Filatjew kämpft mit seinem „inneren Monolog“, wie er es nennt, einer Mischung aus Gewissen, Patriotismus und gesundem Menschenverstand. Der 33-jährige ehemalige Soldat ist sich bewusst, welche Folgen die Verbreitung der Informationen über seinen Kriegseinsatz für ihn haben wird: Er zählt fortan als Staatsfeind und muss  um sein Leben fürchten. Dennoch ist es für ihn alternativlos, zu schildern, was er erlebt hat und wie er darüber denkt. Aber er analysiert nicht, spart die Hintergründe weitestgehend aus. Es geht alleine um seine Sicht und seine Erlebnisse, die er seinem Bericht in tagebuchähnlichen Notizen sowie Rückblenden schildert und einordnet. Filatjew will mit seinem Zeitdokument so viele Russen wie möglich über die Sinnlosigkeit des Krieges aufklären - und sie bestenfalls dazu bringen, dagegen aufzustehen. Mehr als 600.000 Aufrufe hat allein die auf YouTube veröffentlichte russische Hörbuchversion.

Warum kämpfen wir?

Als Filatjew mit seinem Regiment am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert, weiß er nicht, was überhaupt vor sich geht: „Beschießen wir die angreifenden Ukrainer? Die NATO? Oder greifen wir an? Wem gilt dieser höllische Beschuss? Wo kommt die Fernartillerie her? Gab es ein Referendum in den Volksrepubliken? Nehmen wir Cherson ein? Greift uns die Ukraine an, mit Hilfe der Nato? Wie dem auch sei, wir haben sicher einen Plan.“ Letzteres stellt sich später aus Trugschluss heraus. Noch Mitte Februar, als sich der Fallschirmjäger mit seiner Kompanie auf dem Truppenübungsplatz in Staryi Krym befand, ging Filatjew davon aus, bei der Annexion des leidgeprüften Donbass als Friedenstruppe aufzutreten. Er weiß, dass es seine Pflicht als Soldat ist, dem Wohl seines Landes zu dienen und die Bürger Russlands zu beschützen. Dennoch kommen Fragen auf: Bedroht die Ukraine Russland, weil sie der NATO beitreten will? Aber dann müsste man doch alle angrenzenden Länder angreifen, die diesen Plan verfolgen oder bereits in der NATO sind. Hat die Ukraine angegriffen? Aber die ukrainischen Streitkräfte konnten doch schon 2014 noch nicht einmal ihre eigene Grenze verteidigen? Musste man angreifen, um die Volksrepubliken Donzek und Lugansk zu retten? Aber hätte man den Menschen dort dann nicht einfach helfen können, indem man sie nach Russland holt? Aber als Soldat hat er gelernt, Befehle auszuführen, nicht diese zu hinterfragen. Heute sieht Filatjew es anders, fühlt sich benutzt und will nicht länger schweigen. Erst im Lazarett fällt ihm die Diskrepanz zwischen dem, was er an der Front erlebt hat, und der Darstellung in den russischen Medien auf. Von Objektivität keine Spur. Statt über die zahlreichen Toten, die Verwüstung, die Todesangst zu berichten, seien die Verluste laut Nachrichten nur minimal. Putin, der große Realitätsverweigerer.

Gründe für das Scheitern

Auch zur Frage, warum es der russischen Armee - anders als geplant - nicht gelang, seine Ziele zu erreichen, und die Truppen scheiterten, hat Filatjew eine klare Meinung. Man habe kein moralisches Recht, das Nachbarland anzugreifen. Die zahlreichen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern trügen dazu bei, dass man sich von einem Verwandten verraten fühle, was den Hass und den Widerstand in der ukrainischen Bevölkerung nur schüre. Man habe des Weiteren die Reaktion der Ukraine unterschätzt. Zuletzt liege die Schuld aber auch in der furchtbaren Korruption, dem Chaos der Armee und der Tatsache, dass diese „technisch hoffnungslos veraltet und moralisch verrottet sei“.  Die meisten Offiziere, die er kennt, hätten sich nicht ausreichend mit Problemen auseinandergesetzt, könnten keine Soldaten führen und hätten gesoffen. Statt ihre Fähigkeiten als väterliche Kommandeure im Krieg unter Beweis zu stellen, hätten diese im Kasernenhofalltag die Soldaten nur mit sinnlosen Appellen, Beschäftigungstherapien und Kleidervorschriften schikaniert. Wer denkt da nicht unweigerlich an Erich Maria Remarques Unteroffizier Himmelstoß, den es in jeder Armee zu geben scheint?

Filatjews Fazit fällt vernichtend aus: „Ich hatte es lange nicht glauben können, aber anscheinend bestand der einzige Plan darin, die Ukraine einfach mit unseren Leichen zu pflastern - die Weiber würden schon neue Soldaten gebären." Mittlerweile lebt der Ex-Soldat an einem unbekannten Ort in französischen Exil und hat mit seiner russischen Vergangenheit sowie seiner einstigen Existenz abgeschlossen.

Fazit

Trotz des Mutes Filatjews und die Bewunderung dafür, dass er sich nun aktiv und radikal gegen das System Putin und den Krieg wendet, darf man nicht vergessen, dass auch er Teil eines zu verachtenden Angriffskriegs  war und möglicherweise auch Menschen getötet hat. Nicht nur seine Weigerung, weiter Teil der Kriegsmaschinerie zu sein, erinnert an den jungen Leutnant Adolf Reisiger aus Edlef Köppens Antikriegsroman „Heeresbericht“ (1930), denn auch Filatjew wird man in Russland unterstellen, verrückt zu sein. Die Zeiten und leider auch die Menschen scheinen sich nicht zu ändern. Der ehemalige Fallschirmjäger gibt ungeschönte Einblicke in den Kriegsalltag, das Innere der russischen Armee und einer politischen Führung, die sich längst überholt und den Blick für die Wahrheit verloren hat.

ZOV – Der verbotene Bericht

Pawel Filatjev, Hoffmann und Campe

ZOV – Der verbotene Bericht

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