Kommt ein Syrer nach Rotenburg

  • DVA
  • Erschienen: März 2020
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Andreas Kurth
10101

Sachbuch-Couch Rezension vonApr 2023

Wissen

Ein syrischer Flüchtling und sein deutscher Freund tauschen sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihren Völkern und Gesellschaften aus - authentischer kann man über dieses Thema kaum schreiben.

Ausstattung

Charmante und hintersinnige Plaudereien in ein Buch gegossen

Das Buch von Samer Tannous und Gerd Hachmöller ist als Folge mehrerer Zufälle entstanden. Der syrische Universitätsdozent kam als Kriegsflüchtling 2015 mit seiner Familie nach Deutschland. Ihr Weg führte sie nach Rotenburg (Wümme) im nördlichen Niedersachsen. Dort wurde Tannous nach einiger Zeit bei einer Vereinsfeier Gerd Hachmöller vorgestellt - und aus einem netten Gespräch entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Freundschaft. Und das, obwohl die beiden sich als sehr unterschiedlich sehen. Im Vorwort schreiben sie, sie seien wie Kardamom und Petersilie.

Von der Provinzzeitung bis zur Kolumne im Spiegel

Aus regelmäßigen Plaudereien entstand die Idee, kleine Geschichten zu schreiben, über den interkulturellen Austausch, die Unterschiede zwischen beiden Kulturen und vieles mehr. Seither treffen sich Hachmöller und Tannous an jedem Sonntag bei Tee und Kaffee, um sich zu unterhalten und neue Episoden aufzuschreiben.

Zunächst boten die beiden Autoren einige ihrer Geschichten einer kleinen Zeitung an, die sie auch abdruckte. Groß war die Freude von Tannous und Hachmöller, dass sich dann der Spiegel für die Reihe interessierte, und die Gedanken und Anekdoten als Kolumne im Nachrichtenmagazin erschienen. Der nächste Schritt war schließlich, die Texte zu einem Buch zusammenzufassen.

Gegliedert haben die beiden Plauderer ihre Sammlung kurzer Geschichten in mehrere große Abschnitte, und jeder beginnt mit einer passenden Zeichnung. Zunächst geht es um Kontakt, also unterschiedliche Formen der Kontaktaufnahme. So ist beispielsweise ihre Art der Begrüßung für einen Araber deutlich komplizierter, als die Deutschen denken.

Im Abschnitt “Kommunikation” machen die Autoren deutlich, dass das Thema Gastfreundschaft in den Top Ten der Missverständnisse zwischen Arabern und Deutschen ziemlich weit oben rangiert. Ein Beispiel: In Deutschland bietet man dem Besuch Kaffee und Kuchen an, wer will, bekommt eingeschenkt. Araber müssen mehrfach etwas angeboten bekommen, bevor sie zugreifen. Oder ihnen wird ungefragt eingeschenkt und der Kuchen auf den Teller gelegt. Wird dem Besuch nicht mehrfach etwas angeboten oder gar aufgedrängt, fühlt er sich nicht willkommen und geht wieder.

"Oft werde ich von Deutschen gefragt, warum Araber nicht pünktlich zu Terminen kommen. Tatsächlich sind viele Araber notorisch unpünktlich. Das gilt zwar längst nicht für alle, aber es ist nicht von der Hand zu weisen: An diesem Vorurteil ist etwas dran.”

Tannous gibt so einige Empfehlungen. Seiner Frau sagt er oft, wenn sie mit einem Deutschen kein Gesprächsthema findet, Wetter geht immer. Auf dem Hökermarkt in Rotenburg hat der Syrer gelernt, dass vielen Deutschen das Feilschen eher unangenehm ist. Und nicht nur bei dieser Gelegenheit stellt er fest, dass Araber nicht nur deutlich anders als Deutsche kommunizieren, sondern generell einfach viel mehr. Mir gefällt es außerordentlich gut, wie Tannous mit feiner Feder solche Dinge herausarbeitet und sie dann augenzwinkernd seinen Leserinnen und Lesern mitteilt.

Beim Feiern gilt offenbar, dass Deutsche kulinarische Vielfalt genießen, Araber aber eher nicht. Dafür müssen beim Essen mit Gästen arabische Tafeln stets total überfüllt sein. Während er und seine syrischen Landsleute einfach mal feiern und tanzen, weil ihnen spontan danach ist, hat Samer Tannous bei seinen deutschen Mitbürgern eine andere Haltung wahrgenommen.

“Spontan seinen Gefühlen nachzugeben ist Euch Deutschen so vertraut wie den Eskimos das Kameltreiben.”

Das Buch ist voll mit vielen derart blumigen Vergleichen, und die Autoren erklären auch, warum das in der so anderen Kommunikation der Araber so ist. Spezielle musikalische Erfahrungen hat Tannous übrigens in Rotenburg auch gesammelt - zwischen Kirche und Hurricane-Festival. Was schon eine ziemliche Bandbreite abdeckt, wie er eingehend erläutert.

Samer Tannous ist Christ, und darf daher Bier trinken, anders als seine muslimischen Landsleute. Und das genießt er nach eigener Aussage. Nochmal zum Feiern: Weihnachten und Silvester werden von Deutschen und Syrern höchst unterschiedlich gefeiert, und einen weiteren gravierenden Unterschied zeigt er bei Schulabschlüssen auf. Während die in Deutschland ausgiebig zelebriert werden, kennt man das in Syrien überhaupt nicht.

Pedanterie der Deutschen bei Mülltrennung ist anstrengend

Begeistert hat mich ein ehrliches Bekenntnis des Autors zum Thema Mülltrennung in Deutschland. Er schreibt, die deutsche Pedanterie bei diesem Thema sei für ihn und seine Landsleute manchmal einfach nur anstrengend. Dagegen fasziniert ihn in vielerlei Hinsicht die deutsche Sparsamkeit.

Die beiden Autoren äußern sich im Plauderton noch zu vielen Eigenheiten, Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Besonders gut lesbar ist das Buch durch die vielen kleinen Abschnitte, die sich ergeben haben, weil hier Zeitungskolumnen zusammengestellt wurden. Einige Ergänzungen wurden auch eigens für das Buch geschrieben, und dann eben in der passenden Länge. Die Sammlung von Gesprächen wird nett durch ein paar Zeichnungen ergänzt, ansonsten ist die Ausstattung, wie man sie halt bei einem solchen Buch erwartet - aber das ist auch völlig ausreichend.

Fazit

Was für ein schönes Lesebuch. Ein syrischer Flüchtling und sein deutscher Freund tauschen sich regelmäßig, offen und ehrlich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihren Völkern und Gesellschaften aus - authentischer kann man über dieses zuweilen doch recht schwierige Thema kaum schreiben. Augenzwinkernd analysieren die beiden Autoren alle möglichen Unterschiede und Missverständnisse - ein höchst aufschlussreiches Buch, dessen Lektüre wirklich Spaß macht.

Kommt ein Syrer nach Rotenburg

Gerd Hachmöller, Samer Tannous, DVA

Kommt ein Syrer nach Rotenburg

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