Introvertiert

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Yannic Niehr
7101

Sachbuch-Couch Rezension vonJan 2022

Wissen

Jonkmann hat Ahnung vom Thema und gibt sowohl Intro- als auch Extrovertierten gerade dank seines Humors eine Menge an die Hand. Die Gestaltung könnte aber besser sein.

Ausstattung

Ein ausführlicher Selbsttest und ein umfangreiches Quellenverzeichnis runden den Inhalt zufriedenstellend ab.

In der Ruhe liegt die Kraft

Schüchtern, gehemmt, langweilig, arrogant – dies sind nur einige der Vorurteile, die introvertierten Menschen häufig anhaften. Zu Unrecht: Denn bei der Introversion handelt es sich um ein unabänderliches Persönlichkeitsmerkmal, das mit den obig genannten, negativen Konnotationen wenig zu tun hat. In diesem Buch wird der Sache auf den Grund gegangen …

„Wir sollten keine Angst davor haben, Muster zu sehen, solange wir offen dafür sind, sie zu hinterfragen“

Linus Jonkmann, Jahrgang 1975, hat sich in Schweden (wo Die leise Revolution bereits zum Bestseller avanciert ist) schon als Autor, Vorleser und Redner einen Namen gemacht. Seine Art, Themen der menschlichen Psychologie humorvoll aufzubereiten, kommt ihn in diesem Buch zugute, bei dem es sich wohl um eines seiner persönlichsten und introspektivsten handeln dürfte. Denn auch Jonkmann hat – nach jahrelanger Nabelschau – erkannt, dass er introvertiert ist, und fühlt sich endlich ganz selbstverständlich wohl in seiner Haut. Hier stellt er Introversion und Extroversion gegenüber, erklärt, was sie sind (und vor allem, was sie nicht sind!), welche Stärken und Schwächen die verschiedenen Persönlichkeitstypen jeweils mitbringen und welche Chancen und Herausforderungen für Gesellschaft und Arbeitsleben sich daraus ergeben können.

„Der Wind heult, der Berg schweigt“ – japanisches Sprichwort

Den größten Unterschied zwischen Introversion (nach innen gewandt sein) und Extroversion (nach außen gewandt sein) fasst Jonkmann folgendermaßen zusammen: Extrovertierte werden von äußeren Reizen ‚aktiviert‘ und haben ein hohes Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Kommunikation und sozialer Zugehörigkeit, Introvertierte nicht. Dazu gesellt sich eine Reihe weiterer Feinheiten, z.B. dass Introvertierte Gespräche über Leidenschaften oder tiefergehende Themen bevorzugen, analytisch denken und zumeist stärker neurotisch veranlagt sind, wohingegen Extrovertierte gern im Mittelpunkt stehen, intuitiv entscheiden und von Stress und Sinnesreizen zu Höchstleistungen angespornt werden.

Zunächst sollte festgehalten werden, dass es sich natürlich nicht um Persönlichkeitsstörungen oder gar Krankheiten handelt; Jonkmann stellt die stärksten Unterschiede der Einfachheit halber überspitzt dar, stellt aber gleichzeitig klar, dass sich Introversion und Extroversion auf einem Spektrum befinden und dass natürlich so gut wie jeder Mensch sowohl introvertierte als auch extrovertierte Charakterzüge in sich vereint. Jedoch lasse sich (außer bei den in der ‚Mitte‘ angesiedelten Ambivertierten) häufig eine starke Tendenz ausmachen.

Jonkmanns zentrale These besteht darin, dass die Welt sich etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts dergestalt gewandelt hat, dass extrovertierte Stärken deutlich begünstigt und als ‚Standard‘ vorausgesetzt werden, was dazu führt, dass Introvertierten vermehrt suggeriert wird, etwas mit ihnen würde nicht stimmen; gerade in der modernen Arbeitswelt überzeugen zumeist diejenigen, die sich am besten präsentieren (oder selbst darstellen) können, mühelos networken und die lauteste Stimme besitzen, um gehört zu werden. Diese Entwicklung betrachtet der Autor als problematisch und er plädiert für Authentizität und ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, welches introvertierten Stärken – Besonnenheit, Reflektion, Individualismus (aufgrund niedrig ausgeprägter Anfälligkeit für Gruppenzwang und ähnliche soziale Dynamiken) sowie die Ressource, sich dank der komplexen eigenen Gedankenwelt praktisch niemals zu langweilen – wieder mehr Raum geben soll (dies sei auch sehr gut mit einem zunehmend digitalen Lebensraum vereinbar).

Die Rache der Nerds

Sinnbildlich für diese Stärken steht bereits das einstimmende, wunderschöne Cover, welches eine mechanische Version von Rodins berühmtem ‚Denker‘ zeigt, dessen Inneres wie ein Uhrwerk anmutet. Auch die Inhalte überzeugen zum Großteil (und bieten im Anhang selbstverständlich einen umfangreichen Selbsttest, um zu ermitteln, wo man sich denn auf diesem Spektrum in etwa befindet) und kann zur eigenen Selbsterkenntnis beitragen. Gerade für die Navigation im Berufsleben bietet das Buch positive Anregungen und konzentriert sich auch deutlich auf diesen Bereich.

Jonkmann reichert seinen Text mit witzigen Bemerkungen, Übertreibungen und Anekdoten an und schafft so einen zugänglichen, persönlichen und angenehm charmanten Stil mit gelegentlichem Augenzwinkern, ohne die wissenschaftlichen Grundlagen zu vernachlässigen.

Die Aufbereitung des Inhalts ist leider weniger gut gelungen: Die verschiedenen Abschnitte und ihre Aufbereitung erscheint willkürlich und trägt nicht zur Übersichtlichkeit bei, die Stichpunkte am Ende jedes Kapitels, welche die wichtigsten Informationen noch einmal „für Extrovertierte“ zusammenfassen sollen, gehen oftmals am Kern des jeweiligen Themenbereiches vorbei, und es wimmelt vor Wiederholungen. Es verwundert, dass gerade ein Buch über einen Typ Mensch, der gemeinhin vor allem für wortkarg gehalten wird, schlanker und präziser hätte ausfallen dürfen. Leider ist auch die Übersetzung aus dem Schwedischen etwas holprig und bemüht geraten und nicht durchweg gelungen, sodass gerade Jonkmanns Stil, wenn auch manchmal gut getroffen, immer wieder etwas verzerrt wird. Der Gesamteindruck ist also ein wenig getrübt.

Fazit

Linus Jonkmann vermittelt in seinem Bestseller Introvertiert: Die stille Revolution auf detaillierte und unterhaltsame Art und Weise dichte Informationen über die Introversion sowie ihren aktuellen gesellschaftlichen Kontext, entzaubert damit dieses oft missverstandene ‚Buzzword‘ und regt zum Nachdenken an. Über formale Schwächen muss man allerdings hinwegsehen können.

 

Introvertiert

Linus Jonkman, bad project

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