Ich gehörte nirgendwohin

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Carola Krauße-Reim
10101

Sachbuch-Couch Rezension vonMai 2022

Wissen

Umfangreiche Studie zu einem bisher kaum bearbeiteten Thema. Zahlreiche Berichte schaffen Fakten, die ein Umdenken erzwingen.

Ausstattung

Übersichtlich im Aufbau, in gut verständlichem Stil geschrieben und mit zahlreichen Fotos, Anmerkungen und Quellenangaben versehen

Untersuchungen zu einem lange vernachlässigten Thema

Die Kanadierin Rebecca Clifford ist Professorin für Modern European History an der University of Swansea in Wales. Ihr Fokus liegt auf der Shoah und da ganz speziell auf Erinnerungen und Erzählungen der Überlebenden. Ihre Bücher sind Meilensteine in diesem Bereich der Forschung. Mit „Ich gehörte irgendwohin“ widmet sie sich jüdischen Kindern, die 1945 höchstens 10 Jahre alt und damit die jüngsten Überlebenden der Shoah waren. Sie konzentrierte sich auf Personen, deren persönliche Geschichten nicht nur anhand späterer mündlicher Überlieferung rekonstruiert werden konnten, sondern auch durch Archivquellen.

Die Forschung fokussierte sich lange auf andere Themen

Die Erforschung der Shoah und auch die Sicht auf sie änderte sich im Laufe der Nachkriegszeit enorm. In den ersten Jahren nach Kriegsende fand das Gräuel der Lager so gut wie keine Beachtung oder Erwähnung. Der Antisemitismus war noch weit verbreitet in der deutschen Bevölkerung und der Wiederaufbau stand an erster Stelle. Eine Aufarbeitung der Kriegsjahre begann erst in den späten 60er-Jahren mit den Studentenprotesten. Doch auch jüdische Überlebende wollten die Zeit während der Shoah aus verschiedenen Gründen am liebsten vergessen und schwiegen sie daher einfach tot.

Die ersten Forschungen bezogen sich auf die Jahre von Hitlers Machtübernahme bis zur Befreiung 1945, die Auswirkungen der Erlebnisse auf das Leben danach wurde nicht berücksichtigt. Nur langsam wurde auch diese Zeit wichtig – doch man konzentrierte sich wieder nur auf die Erwachsenen unter den Überlebenden, die Kinder blieben weiterhin vernachlässigt. Man nahm sie lediglich als eine Gruppe von Opfern wahr, ohne sie als „eigenständige Akteure und handelnde Subjekte“ zu sehen, die „kreative Flüchtige, Unterhändler, Manipulatoren und sogar Täter bei Racheakten sein konnten“. Das änderte sich mit dem Beginn der „Oral History“, bei deren Anfängen zuerst Interviews mit gezielten Fragen gestellt wurden, mittlerweile allerdings dazu übergegangen wird, die Menschen einfach erzählen zu lassen. Wobei sich auch hier Schwierigkeiten auftun, gerade wenn die Interviewer schon eine Annahme als grundlegende Tatsache während der Fragen ansehen, wie etwa, dass die Erlebnisse während der Shoah das Schlimmste im ganzen Leben der Überlebenden zu sein hatten. Aber auch die Schilderungen selbst müssen objektiv betrachtet werden, liegen sie doch weit zurück und Ereignisse können durchaus falsch memoriert werden. Jedoch sagen auch solche falschen Erinnerungen viel über den Erzählenden aus.

Ist Identität ohne familiären Hintergrund möglich?

Clifford konzentriert sich nicht nur auf die Jahre direkt nach Kriegsende, sondern versucht anhand von heutigen Erzählungen und historischem Archivmaterial zu denselben Personen herauszufinden, wie sich die Sicht auf das Erlebte änderte und vor allem, ob es möglich ist ohne familiären Hintergrund eine eigene Identität aufzubauen. Denn diese basiert nicht nur auf eigenen Erfahrungen, sondern auch auf gehörter Familiengeschichte, Anekdoten und Beziehungsgeflechten. Sie lässt Personen zu Wort kommen, die als Kinder in Lagern lebten, sich im Untergrund verstecken mussten oder bei Pflegefamilien unter falscher Identität untergebracht waren und damit den Grundlagen einer eigenen Identität beraubt wurden.

Clifford legt den Werdegang der Forschungen zur Shoah vor und berichtet von der, auch unter Juden, sehr umstrittenen Frage, wer überhaupt als Überlebender und Opfer anzusehen ist. Die Berichte aus den Sitzungen zur Oral History sind Kern des Buches. Erwachsene, die den Holocaust in frühester Kindheit erlebt haben, erzählen von ihren damaligen Erlebnissen, aber auch von der Zeit nach Kriegsende. Die Befreiung war für sie ein einschneidendes Erlebnis, wurde doch ihre Normalität zu dem Ausnahmezustand, für den die Außenstehenden ihr bisheriges Leben sahen. Clifford ergänzt die Berichte mit unglaublich vielen Fakten und Zahlen, die sich auch im umfangreichen Quellenverzeichnis und den zahlreichen Anmerkungen niederschlagen. Der Stil ist durchaus wissenschaftlich gehalten, jedoch dennoch durchgehend gut verständlich. Fotos lassen das Dargestellte noch prägnanter und fassbarer werden, vor allem wenn Personen aus den Berichten gezeigt werden.

Fazit

Clifford liefert einen längst überfälligen Beitrag zur Erforschung der Shoah. Die lange vernachlässigten damaligen Kinder unter den Überlebenden kommen zu Wort und zeigen mit ihren Biografien die Auswirkungen von Krieg, Verfolgung und Vernichtung auf die eigene Identitätsfindung. Die Ergebnisse dieser Studie revidieren lange Angenommenes und erzwingen einen neuen Blick auf die Shoah und ihre Folgen.

Ich gehörte nirgendwohin

Rebecca Clifford, Suhrkamp

Ich gehörte nirgendwohin

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