Einstein: Die Biografie
- C.Bertelsmann
- Erschienen: Oktober 2024
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Genie und Mensch in relativer Einheit.
Mehr als 800 Seiten zählt dieses Buch. Schon wenn man es in der Hand hält (1,2 Kilogramm!), merkt man, wie bedeutend Albert Einstein (1879-1955) gewesen sein muss - oder für wie bedeutend man ihn gehalten hat und hält. Schon oft haben sich Biografen mit Einsteins Leben und Werk beschäftigt. Zum Problem wurde - und wird - stets die Frage nach der Objektivität des Verfassers. Wirklich wertneutrale, d. h. ausschließlich auf Fakten ruhende Lebensbilder gibt es nicht, kann es wahrscheinlich nicht geben, weshalb quasi jede Generation unter dem Eindruck sich ändernder soziokultureller Faktoren ‚ihren‘ eigenen Einstein entdeckt.
Hinzu kommen neue Informationen: Korrespondenz, die bisher unbekannt, verborgen oder unerreichbar war, weil sie von Staats wegen als „geheim“ eingestuft oder von Familienmitgliedern oder Freunden versteckt (und manchmal sogar vernichtet) wurde, um ein bestimmtes, gewünschtes Einstein-Bild zu unterstützen. Walter Isaacson hat tief gegraben und neue Lebensinformationen berücksichtigt. Zum Vorschein kommt sowohl ein Genie als auch ein Mensch, der beispielsweise Freunden auf einer Postkarte beschrieb, wie er und seine Lebensgefährtin Mileva Marić die Fertigstellung der speziellen Relativitätstheorie 1905 gefeiert hatten: „Total besoffen leider beide unterm Tisch.“
Einstein I - Mensch und Mythos
Albert Einstein ist seit Jahrzehnten tot, was aber kein Hindernis war, als er das Internet eroberte, um dort als Meme lebendiger denn je zu werden. Ihn selbst würde das nicht wundern, sondern amüsieren (und ihm schmeicheln) denn spätestens in den 1920er Jahren wurde Einstein zu dem, was man später einen „Superstar“ nannte, obwohl er abseits der Populärkultur existierte. Schauspieler - vor allem die weiblichen Geschlechts - wurden zu Kultfiguren erhoben und verehrt. (Theoretische) Physiker wie Einstein fielen eher nicht in diese Kategorie.
Doch Einstein ‚profitierte‘ von einem Wandel. Zu seinen Lebzeiten wurden Presse, Radio, Film und zuletzt Fernsehen alltagsgegenwärtig. Was berichtet wurde, musste nicht zwangsläufig in die Tiefe gehen (oder der Wahrheit entsprechen). Das öffentliche Bild eines Menschen löste sich von seiner Person. Einstein wurde berühmt als Schöpfer einer neuen, revolutionären Physik, die zwar kaum jemand verstand, deren Bedeutung der Öffentlichkeit aber eingehämmert wurde.
Zudem eignete sich Einstein als unkonventionelles, wenig (Ehr-) Furcht einflößendes, sondern betont ‚menschlich‘ wirkendes Genie. Er trat nicht in Anzug und mit Krawatte auf, zeigte sich in abgetragenen Kleidern, kämmte sich selten das wallende Haar und kultivierte sehr wohl absichtlich eine liebenswert zerstreute = unwichtige Konventionen ignorierende Lebensart. Zudem war Einstein - wenn in Stimmung - freundlich, sogar witzig, durchaus eitel sowie den Freuden des Lebens keineswegs abgeneigt. Er hatte es gern gemütlich, aß gut und liebte Frauen; in dieser Hinsicht verhielt er sich besonders menschlich (oder männlich) und neigte zur Untreue. Immer wieder geriet Einstein privat in heftige (Gefühls-) Stürme, vor denen er in die Arbeit flüchtete.
Einstein II - das Genie
Parallel dazu existierte der Physiker Einstein, der das Weltbild buchstäblich auf den Kopf stellte bzw. es von einem Konzept ‚befreite‘, das dieses Universum als gigantisches Uhrwerk betrachtete. Es ging zurück auf Isaac Newton (1643-1727) und wurde in den folgenden Jahren von zahlreichen Forschern bestätigt, auch wenn sich allmählich Lücken auftaten. Je weiter die Wissenschaft voranschritt, desto präziser wurden die Möglichkeiten, Newtons Konstanten nachzuprüfen - und sich zu wundern: Immer wieder stieß man auf Phänomene, die sich nicht einpassen ließen.
(Viel) zu lange wagte niemand wirklich an Newtons Welt zu rütteln. Stattdessen dachte man sich mathematische und physikalische Hilfskonstruktionen aus, mit denen sich die neuen, verwirrenden Erkenntnisse so interpretieren ließen, wie man es vorzog. Einstein war unter denen, die nach 1900 diese Grenze ignorierten und hinter sich ließen. Da er weiter ging als alle anderen, heimste er den Ruhm ein, wobei er nie jene verschwieg, die ihm dort ausgeholfen hatten, wo er schwächelte: So dauerte es, bis er die tragende Rolle der Mathematik begriff und akzeptierte; sie hatte ihn zunächst gelangweilt.
Schon viele Köpfe wurden über der Frage zerbrochen, wie Einstein die neuen Erkenntnisse der Physik erfassen, bündeln und interpretieren konnte - und dies über einen langen Zeitraum praktisch im Alleingang sowie auf rein theoretische Weise: Er entwarf seine Relativitätstheorien im Kopf. Sogar die Hinweise darauf, wie sie sich beweisen ließen, verwiesen auf zukünftige Bestätigungsmethoden. Erst als diese Einsteins Thesen bestätigten, schlug sich die Wissenschaft auf seine Seite.
Einstein III - der Vertriebene
Allerdings gab es heftigen Gegenwind, verursacht von Forscherkollegen, die vom komplexen Einstein-Universum nichts wissen wollten, weil sie außerstande waren, es zu erfassen. Neid und Wut fanden ihren Hebel in der Tatsache, dass Einstein Jude war. Sämtliche bösen Vorurteile wurden auf seine Person und sein Werk zugeschnitten. Schon in den 1920er Jahren geriet Einstein in den Fokus verblendeter Kollegen, von denen in Deutschland viele nicht mehr auf die Forschung, sondern auf die Nazis setzten. Diese Partei bestand auf einer „deutschen Physik“, die solchen komplexen ‚Unfug‘ wie die Relativitätstheorien einfach ausschloss.
Einsteins Ruhm sicherte sein Leben und seine Karriere, als sich die Falle für deutsche Juden zu schließen begann. Er war als prominenter Wissenschaftler ein gern gesehener Gast, sodass er Deutschland nicht nur verlassen konnte, bevor die Nazis seiner habhaft wurden, sondern in den USA eine gut dotierte Stellung in einer Elite-Universität fand.
Dort war er berühmt, aber zunehmend eine tragische Gestalt. Autor Isaacson sucht nach dem Zeitpunkt, als Einstein, ein wissenschaftlicher Rebell und Bilderstürmer, der die Verkrustung der Physik aufbrach, einhielt und sich an ein Weltmodell klammerte, das sogar einige der von ihm selbst entwickelten Ergebnisse in Frage stellte. Einstein (ver-) zweifelte an einer neuen Generation von Physikern, die er inspiriert hatte und die nun dorthin vordrangen, wo er sich fürchtete, weil dort jegliche logisch erfassbare Ordnung ausgesetzt scheint: ins Reich der subatomaren Quanten, die sich um das Prinzip Ursache und Wirkung nicht kümmern.
Einstein IV - der Tragische (?)
Obwohl er die Quanten-Physik entscheidend mit aus der Taufe gehoben hatte, suchte Einstein fast verzweifelt nach jener hypothetischen Formel, mit der sich sämtliche physikalischen Erscheinungen - auch die widerspenstigen Quanten - unter einen Hut bringen ließen. Bis zu seinem Tod arbeitete er daran, endete aber stets in Sackgassen, während die Physik sich weiterentwickelte - nun zunehmend ohne ihn, der für seine früheren Forschungen verehrt, aber an den Rand gedrängt wurde.
Auch seine Aktivitäten außerhalb der Wissenschaft waren letztlich von wenig Erfolg gekrönt. Schon nach dem Ersten Weltkrieg machte sich Einstein für den Weltfrieden und die Völkerverständigung stark und verurteilte autoritäre Regime. In Deutschland sorgte der aufstrebende Nationalismus dafür, dass man ihn als Quertreiber einsortierte. In den USA wurde der Zweite Weltkrieg und später der Kalte Krieg zum Auslöser einer Einstein-Kritik, die den Forscher u. a. zu einem Zielobjekt für den vom Kommunistenwahn zerfressenen FBI-Chef J. Edgar Hoover aufsteigen ließ.
Einstein verurteilte das atomare Wettrüsten und nahm wie üblich kein Blatt vor den Mund. Ungeachtet der Tatsache, dass man ihn ignorierte, gab er nicht nach und ging auch auf diese Weise in die Geschichte ein.
Die Macht des Subjekts
Walter Isaacson ist ein ebenso berühmter wie kritisierter Biograf. Er hat sich auf die Verfechter revolutionärer (natur-) wissenschaftlicher Visionen spezialisiert und wird für seine intensive Recherchearbeit gerühmt, die er auch für dieses Buch geleistet hat, wie ein beeindruckender Anmerkungsapparat beweist. Aus Sicht der erwähnten Kritiker neigt Isaacson dazu, die von ihm nachgezeichneten Lebensläufe zu ‚interpretieren‘ und es an der notwendigen (aber generell schwierigen) Objektivität fehlen zu lassen. Schon seiner Da-Vinci-Biografie wurde das vorgeworfen. Noch problematischer ist Isaacsons Biografie von Elon Musk; dies nicht nur deshalb, weil dieser inzwischen zum Trump-Troll mutierte, was Isaacsons vor dieser Phase veröffentlichtes Werk unvollständig wirken lässt. Dieses Mal mag Isaacson ein Stück weit dem Einstein-Mythos erlegen sein, obwohl man ihm zugutehalten muss, diesen ausführlich und als von Einstein selbst geformt zu entschlüsseln.
Ein Problem kann man dem Verfasser nicht vorwerfen: Einsteins physikalischen Theorien sollten und müssen berücksichtigt werden. Angeblich hat Isaacson mit Hilfe einschlägiger Spezialisten diese Kapitel auf ein Niveau heruntergebrochen, das jede/r Leser/in mit physikalischem Schulwissen meistern sollte. Für diesen Rezensenten war das Ende dieser Fahnenstange freilich rasch erreicht.
Ansonsten erlag Isaacson wie so viele Biografen der Versuchung, das intensiv erarbeitete Wissen geballt weiterzugeben. Daraus resultiert eine Fülle durchaus interessanter, aber nur bedingt oder gar nicht relevanter Details, die das ohnehin voluminöse (und im Original übrigens bereits 2007 erschienene!) Werk weiter aufblähen. Dies erfordert wiederum Wiederholungen, wenn Isaacson auf Themen zurückgreift, die er einhundert, dreihundert, fünfhundert Seiten zuvor angesprochen hatte.
Fazit
Ein Leben wie das von Albert Einstein weist eine Informationswucht auf, die jeden Biografen unter Druck setzen dürfte. Hinter Walter Isaacsons Werk steht der Drang nach dem Mehrwert einer neuen Biografie. Er hat ihn ungeachtet einiger Längen und Abwege erreicht, was die manchmal anstrengende bzw. fordernde Lektüre lohnenswert macht.

Walter Isaacson, C.Bertelsmann
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