Der Horror der frühen Chirurgie

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Michael Drewniok
8101

Sachbuch-Couch Rezension vonDez 2022

Wissen

Ausstattung

Der blutige Weg zum neuen Gesicht

In einem früheren Werk informierte die auf die Geschichte der Medizin spezialisierte Historikerin Lindsey Fitzharris darüber, wie die Narkose das Ende des zuvor ungemilderten Operationsschmerzes brachte und damit die Medizin revolutionierte. Nun widmet sie sich erneut einem Fortschritt, der aus purem Grauen geboren wurde.

Den Ersten Weltkrieg focht man noch im Geiste ‚traditioneller‘ Auseinandersetzungen aus. Seit jeher starben an den Fronten Menschen schreckliche Tode, aber niemals zuvor traf der Begriff „Schlachtfeld“ so zu wie in den Jahren 1914 bis 1918. Die Technik überrollte den Menschen, der an allen Fronten die Möglichkeiten des ‚industriellen‘ Tötens mit einer Hingabe nutzte, die Opferzahlen in siebenstelliger Größe produzierte.

Gar nicht selten waren diejenigen, die tot auf dem „Feld der Ehre“ blieben, besser dran als die Überlebenden, die man in eines der frontnahen Lazarette schaffte. Durchschlagskräftige Munition, Splittergranaten, Flammenwerfer, Giftgas: Der menschliche Körper wurde buchstäblich in Stücke gerissen, verbrannt und verätzt, erwies sich jedoch als so robust, dass selbst schwerste Verletzungen überlebt werden konnten.

Nicht tot, aber für die Welt gestorben

Dies mussten unzählige Pechvögel erfahren, die der Front verstümmelt entkamen. Der Verlust von Gliedmaßen war nicht das Schlimmste; das volle Elend traf jene, die buchstäblich ihr Gesicht verloren hatten: Es war ihnen weggeschossen, -gesprengt oder -gebrannt worden. Diese Überlebenden wünschten sich oft nachträglich den Tod, denn sie waren zu wandelnden Schreckgespenstern geworden, vor denen sich Eltern, Ehepartner, Kinder und Freunde fürchteten und ekelten.

Ohne Nase oder gar Unterkiefer sieht ein Mensch grotesk aus. Psychologisch ist eine derartige Verletzung verheerend. Das Gesicht prägt den Menschen, gibt ihm Identität. Es ist ein unverzichtbares Zentrum nonverbaler Kommunikation, die zu erkennen und zu dechiffrieren wir gelernt haben. Wo dieses Gesicht verschwunden ist, fehlt ein elementares Verständigungsinstrument. Es wird ‚ersetzt‘ durch die verzerrte Parodie eines Gesichtes, die Entsetzen verursacht.

Für die oberen Ränge des Militärs, die fern der Front über Vorstöße und Rückzüge entschieden, war dieses ‚Problem‘ nebensächlich. Die medizinische Versorgung sollte in erster Linie dafür sorgen, dass verletzte Soldaten so rasch wie möglich in ihre Schützengräben zurückkehrten, um erneut auf den Feind zu schießen. An die Zeit nach dem Krieg dachte niemand, zumal die versehrten Krieger früher oder später doch fallen würden.

Der Kampf um die Identität

Die Gleichgültigkeit der hochrangigen Befehlshaber resultierte auf beiden Seiten der Westfront aus der Erkenntnis, dass der Krieg nicht wie geplant verlief. Er hatte sich buchstäblich festgefressen; man lag sich in ausgebauten Schützengräben gegenüber, die sich durch Belgien und Frankreich über 750 Kilometer hinzogen und gut zu verteidigen waren. Sturmangriffe endeten blutig in Stacheldrahtzäunen und MG-Feuer; die Toten verrotteten im Niemandsland.

Doch der brutale Pragmatismus wurde keineswegs überall geteilt. Es gab bereits eine plastische Chirurgie, die Entstellungen ausgleichen wollte. Gemeint war damit keineswegs die heutige „Schönheitschirurgie“. Auch ohne Krieg werden Menschen durch Arbeits- und Verkehrsunfälle, Krankheiten, Mordversuche grässlich entstellt. Autorin Fitzharris geht weit zurück in die Geschichte und beschreibt eine schon frühzeitlich oft raffinierte Prothesentechnik: so trugen wohlhabende Syphiliker, denen die Krankheit die Nase aus dem Gesicht gefressen hatte, gern eine fesche Silbernase.

Natürlich waren solche Prothesen eine Notlösung. Die moderne Medizin setzte auf ‚echte‘ Wiederherstellung in Fleisch und Knochen. Fitzharris schildert die Entwicklung dieser Chirurgie am Beispiel des englischen Pioniers Harold Gillies (1882-1960), der als „Vater der plastischen Chirurgie“ gilt. Sie betont dabei, dass Gillies nicht der erste oder einzige Arzt war, der sich auf diesem Feld engagierte, und nennt zeitgenössische Kollegen, wobei die Kriegsfront keine Rolle spielt: Auch im feindlichen Deutschland wollten plastische Chirurgen verzweifelten Soldaten helfen und leisteten dabei medizinische Grundsatzarbeit.

Überrollt vom Elend

Eindringlich beschreibt Fitzharris die Schwierigkeiten, die Gillies durch Improvisation und unermüdlichen Einsatz überwinden musste. Plastische Chirurgie galt wie gesagt nicht als „kriegswichtig“, weshalb die finanziellen Mittel zunächst knapp waren. Auch die medizinischen Ressourcen blieben begrenzt. Zudem steckte die Gesichtsrekonstruktion in den Kinderschuhen. Die Entwicklung wurde von Rückschlägen und Enttäuschungen begleitet, aber auch von Erfolgen und Fortschritten, die endlich zur Kenntnis genommen wurden und dazu führten, dass die plastische Chirurgie ein wichtiges Element der Kriegsmaschine wurde.

Sachkundig erzählt Fitzharris über ein Kapitel der Medizingeschichte, das kaum mehr als ein Jahrhundert zurückliegt. Was wir heutzutage ganz selbstverständlich von unseren Ärzten verlangen, sind Errungenschaften, die der Gegenwart näher sind, als man sich vorstellt. Für die Patienten wurde die Behandlung zum Wechselbad zwischen Hoffnung und erst recht grausamer Ernüchterung, wenn die langwierige, meist schmerzhafte Prozedur scheiterte.

Fitzharris verknüpft zeitgenössische Quellen mit modernem Wissen, was dabei hilft, die frühen Bemühungen objektiv einzuschätzen. Dies fällt schwer, wenn man lesen muss, wie medizinischer Fortschritt von politischer und militärischer Seite lange abgetan und Menschenschicksale dadurch besiegelt wurden. „Der Horror der frühen Chirurgie“ verzichtet auf Fotos, Fitzharris setzt auf Beschreibungen, die an Drastik und Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen. Wer es dennoch genauer wissen möchte, kann wie üblich auf das Internet zurückgreifen. Ratsam ist es nicht …

Das Problem des roten Fadens

Das Thema an sich sorgt dafür, dass dieses Sachbuch sich wie ein (Horror-) Roman liest. Darüber hinaus ist es mit Informationen gespickt, die von der Autorin in allgemeinverständliche Worte gefasst werden. Als Leser dankt man ihr dafür, wenn es um komplexe medizinische Methoden geht. Hinzu kommen Anekdoten, die den Informationsfluss auflockern.

In einem Punkt zeigt Fitzharris weiterhin Schwächen. Schon in „Der Horror der frühen Medizin“ verlor sie sich gern in der Darstellung gut recherchierter, doch den selbst gesetzten Rahmen sprengender Nebensächlichkeiten, während Relevantes manchmal etwas kurz kommt. In diesem Buch fällt u. a. der penibel über viele Seiten rekonstruierte Weg auf, der für das österreichische Thronfolgerpaar Franz Ferdinand und Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajewo tödlich endete. Zwar war dieses Ereignis (mit-) verantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, spielt aber keine Rolle für das Thema.

Wie neu ist überhaupt, was Fitzharris präsentiert? Aus dem Anmerkungsapparat wird deutlich, dass sie immer wieder und umfangreich auf Gillies‘ Biografie zurückgreift. Das Leben dieses prominenten Vertreters der medizinischen Zunft wurde selbstverständlich detailliert nachgezeichnet. Man darf wohl davon ausgehen, dass „Der Horror der frühen Chirurgie“ bekanntes Wissen überblicksartig rafft.

Fazit

 Sachbuch-Rückblick auf die ‚Geburtsstunde‘ der plastischen Chirurgie, die manchen Horrorroman in den Schatten stellt. Die Biografie des englischen Pioniers Harold Gillies wird zum Leidfaden durch ein spannend, eindringlich und verständlich geschildertes Kapitel der Medizingeschichte.

Der Horror der frühen Chirurgie

Lindsey Fitzharris, Suhrkamp

Der Horror der frühen Chirurgie

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