Deportiert

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Julian Hübecker
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Sachbuch-Couch Rezension vonApr 2024

Wissen

Eine ungefilterte Sammlung von Zeitzeugenberichten.

Ausstattung

Zahllose Quellen und einige Fotos belegen die Grausamkeit der NS-Zeit für deutsche Jüdinnen und Juden.

Nur schwer zu ertragen, aber ungeheuer wichtig.

Anfang der 1940er Jahre wurden zehntausende Jüdinnen und Juden in den Osten deportiert und mussten unter unmenschlichen Bedingungen leben und überleben. Einige von ihnen konnten nach Kriegsende von ihren Erfahrungen berichten. Die meisten von ihnen jedoch nicht: Sie starben durch eine Kugel, den Strick oder durch Krankheit und Hunger. Erhaltene Briefe bezeugen ihre Verzweiflung und sind in diesem schonungslosen Buch zusammengefasst.

„Es würde ein herzzerreißender Schrei sein, ein Schrei, bei dem ich selbst meine Stimme nicht erkennen würde, weil es ja gar keine menschliche Stimme mehr ist.“

Wenn man von dem wohl schwärzesten Kapitel deutscher Geschichte spricht, ist klar, dass es um die Verschleppung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas geht. Fast zwei Drittel der jüdischen Menschen kamen damals um. Dass dahinter jedoch Millionen Einzelschicksale stecken, klammern heute viele aus. Zu groß ist die Dimension, zu leicht die Vorstellung der Jüdinnen und Juden als eine beklagenswerte Masse, die vom NS-Regime als minderwertig betrachtet wurde.

Welche Ängste, Hoffnungen und Tragödien sich für jedes einzelne Opfer des Holocausts abgespielt haben, wird in diesem Buch von Andrea Löw mehr als klar. Als „kollektive Erzählung auf Basis hunderter Zeugnisse“ liest man ein vielstimmiges Drama, das auf Briefen, Postkarten, Tagebucheinträgen, schriftlichen und mündlichen Berichten sowie Fotos basiert. Die Autorin ist stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München und konnte mit ihrer Expertise etwas Einmaliges schaffen, das von großer Bedeutung ist.

Kein Buch hat mich je so berührt

Insgesamt neun Kapitel, beginnend mit einem Zitat, findet man hier. Dabei werden bewusst die Schicksale der Menschen in den Konzentrationslagern ausgeklammert oder nur am Rande erwähnt. Das hat einen einfachen Grund: Viele Jüdinnen und Juden, die man aus dem deutschsprachigen Raum Anfang der 1940er Jahre in den Osten (u.a. Weißrussland und Lettland) deportierte, wurden mit dem Versprechen beruhigt, in Arbeitslager zu kommen, wo sie sich ein neues Leben aufbauen konnten. Daher waren einige voller Vertrauen, dem Nazidruck in Deutschland endlich entfliehen zu können, und schrieben in froher Erwartung an ihre Liebsten. Die bittere Realität offenbarte sich schließlich vor Ort: trostlose Ghettos, zuvor von den örtlichen Jüdinnen und Juden „befreit“, während deren Gedeck oft noch auf den Esstischen stand. Das Kapitel „Massenmorde an den Zielorten“ beschreibt es treffend: „Keine einzige Menschenseele mehr“.

Unter Lebensgefahr schrieben tausende Ghettobewohner verzweifelt und hoffnungslos an Verwandte im Ausland, baten um Geld, Kleidung oder Essen. Das Leben war geprägt von Krankheit, schwerer Arbeit und der Willkür der SS. Massenerschießungen, Tod durch den Strang, aber auch Typhus und Erschöpfung forderten täglich Opfer. Auf diese Weise kommen hunderte Jüdinnen und Juden (aufgeführt im Personenregister auf sechs Seiten) zu Wort und erzählen ihre persönlichen Geschichten.

Darunter Claus Becher, dessen Mutter, nachdem er schon Vater und Brüder verloren hatte, zur Ermordung selektiert wurde: „Jetzt hatte ich keine Familienangehörigen mehr. (…). Ich hatte niemanden, mit dem ich weinen konnte.“ Oder die Eheleute Klein, die sich kurz vor ihrer Deportation voller Trauer von ihren Kindern verabschiedet haben, welche zuvor durch einen Kindertransport in Sicherheit gebracht werden konnten: „Sollten wir uns im Leben nicht mehr wieder sehen, so verabschiede ich mich von Euch meine geliebten Kinder.“ Kurz darauf wurden sie im Ghetto erschossen. Nur wenige der hier zu Wort kommenden haben es bis zum Kriegsende geschafft. Eine von ihnen, Edith Blau, überlebte wie durch ein Wunder sogar mit ihrer Mutter. Sie schreibt Jahre nach dem Krieg: „Meine Mutter und ich waren abwechselnd mutig.“

Manche Erzählungen sind nur schwer zu ertragen. Doch was kann es Wichtigeres geben als diese Zeugnisse, die direkt aus der Feder der Opfer stammen? Ich habe schon viele Bücher über den Holocaust gelesen, doch keines hat mich so sehr berührt wie dieses. Andrea Löw hat etwas zutiefst Emotionales, Mutiges, vor allem Wertvolles erschaffen, das ungefiltert vor Augen führt, dass Millionen unschuldige Menschen brutal aus dem Leben gerissen wurden, aufgrund der Ideologie eines menschenverachtenden Regimes.

Fazit

Eine „kollektive Erzählung“ deutschsprachiger Jüdinnen und Juden, die Anfang der 1940er in die Ghettos von Riga und Minsk deportiert wurden. Ungefiltert transportiert dieses Buch ehrliche Emotionen hunderter Menschen, deren Leben sich von einem Moment auf den anderen änderte – und meist endete.

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