Darwin in der Stadt

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  • Erschienen: November 2018
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Michael Drewniok
9101

Sachbuch-Couch Rezension vonSep 2020

Wissen

Für seine Recherchen hat der Autor diverse Reisen unternommen, die ihn über die Jahre an weit entfernte Orte führten. Seine Erlebnisse lässt er in den Text einfließen und beschreibt Orte, aber auch Kollegen und Studenten oder einfach ‚nur‘ interessierte Mitmenschen, die mit eigenen Beobachtungen Themenrelevantes beizutragen haben.

Ausstattung

Ohne die Fakten darüber aus den Augen zu verlieren, gibt Schilthuizen seinem Text eine Struktur, die sich an der ‚Evolution‘ dieses Buches orientiert.

Urban-Evolution im Zeitraffertempo

Wir Normalbürger sind schlechte Nachrichten gewohnt, wenn es um „die Natur“ geht. Mit ernsten Mienen teilen uns Fachleute und Aktivisten mit, dass die Erde sich in eine urwaldfreie, gefrackte, plastikmüllgeflutete, vergiftete, verstrahlte und anderweitig malträtierte Wüstenei verwandelt. Damit liegen sie durchaus richtig, aber wie so oft ist dies nur die eine Hälfte nicht unbedingt der Wahrheit, sondern der Realität: Zwar rafft es viel zu viele Tier- und Pflanzenarten dahin, weil der Mensch immer mehr Lebensraum benötigt und ihn sich dort, wo die Gesetze zur Freude global agierender Konzerne lasch sind, weiterhin rücksichtslos aneignet.

Doch diese Flächen verschwinden nicht von der Erdoberfläche. Sie wandeln sich radikal - vor allem dort, wo der Mensch sich persönlich ansiedelt. Die Stadt galt lange als jener Ort, der sich am weitesten von der ursprünglichen Natur entfernt hat. Erst seit relativ kurzer Zeit stellt sich heraus, dass gar nicht wenige Tiere und Pflanzen sich an die oft fremden Lebensverhältnisse in der Stadt anpassen können. Wo ihnen das gelingt, blühen und gedeihen sie nicht nur, sondern sie verändern sich auch: Die Evolution, die lange als recht langsamer Prozess galt, reagiert erstaunlich zügig dort, wo es hilfreich ist.

Menno Schilthuizen, Professor für Evolutionsbiologie an der niederländischen Universität Leiden, gehört zu einem Forscherkreis, der sich auf die Untersuchung dieses Phänomens spezialisiert hat. Im Zeitalter des Internets entstand ein Netz von Wissenschaftlern, die in ständigem Kontakt stehen - ein Vorteil, weil immer deutlicher wird, dass praktisch jede Stadt eine separate Evolutions-‚Insel‘ darstellen kann: Die Arten, die dorthin umzogen, haben begonnen sich zu entwickeln, während ihre (bisherigen) Artgenossen, bleiben, wo und wie sie sind.

Darwins langer, unerwartet wendiger Arm

„Darwin in der Stadt“ ist die Bestandsaufnahme eines Phänomens, das auch Laien nicht nur überrascht, sondern auch fasziniert. Dies gilt erst recht, wenn jemand die Fakten kennt, sie aber nicht nur auflistet, sondern mit ihnen ‚spielt‘ und zu erzählen weiß. Schilthuizen ist das Paradebeispiels eines Autors, der unter Beweis stellt, dass ein Sachbuch keine trockene Lektüre und Lernen kein schmerzhafter Vorgang sein muss. Ohne die Fakten darüber aus den Augen zu verlieren, gibt Schilthuizen seinem Text eine Struktur, die sich an der ‚Evolution‘ dieses Buches orientiert. (Eine kompetente Übersetzung erhält dieses Vergnügen.)

Für seine Recherchen hat der Autor diverse Reisen unternommen, die ihn über die Jahre an weit entfernte Orte führten. Seine Erlebnisse lässt er in den Text einfließen und beschreibt Orte, aber auch Kollegen und Studenten oder einfach ‚nur‘ interessierte Mitmenschen, die mit eigenen Beobachtungen Themenrelevantes beizutragen haben. Forschung ist kein Ego-Trip, und Durchbrüche werden selten von einsamen Genies (bzw. Nerds) erzielt. Schilthuizen zollt dem zusätzlich in einer seitenlangen Danksagung Rechnung. Hier erwähnt er, wer ihm geholfen, ihm interessante Stätten gezeigt und aus dem eigenen Kenntnis-Kästchen geplaudert hat. Dieses ‚Geständnis‘ fördert den Respekt, der einem Wissenschaftler und Autor gebührt, weil er ein komplexes Thema und eine Unzahl oft scheinbar in keinem Zusammenhang stehender Fakten zu einer ‚runden‘ Darstellung formt.

Schilthuizen kann fachlich aus dem Vollen schöpfen. Was er zu sagen hat, ist sowohl interessant als auch verblüffend. An dieser Stelle soll ein Beispiel genügen: Charles Darwin, der ‚Vater‘ der Evolutionslehre, hat seine Erkenntnisse u. a. den Finken der Galapagos-Inseln zu verdanken. Ihm fiel 1835 auf, dass sich deren Schnäbel von Insel zu Insel unterschieden: Sie hatten sich den jeweiligen Futterverhältnissen angepasst und neue Arten entstehen lassen. Genau dies stellt man heute in den Städten fest: Ehemalige Landfinken bekommen längere, dünnere Schnäbel, weil sie keine harten Kerne mehr knacken müssen. Der Kreis schließt sich, wenn sich auf den von Touristen frequentierten Galapagos-Inseln die Schnäbel einiger Finkenarten ähnlich entwickeln: Sie picken keine trockenen Körner mehr, sondern plündern lieber die örtlichen Restaurants, wo die Leckereien weich und mundgerecht sind.

Drehscheiben zusammengewürfelter Nachbarn

Städte sind nicht nur für Menschen Schmelztiegel. Schilthuizen verdeutlicht es, indem er klarstellt, dass Zuzügler nicht nur aus dem Umland kommen. Seit jeher schleppt der Mensch vor allem über den Fernhandel per Schiff versehentlich Tiere und Pflanzen aus fremden Ländern und Kontinenten ein. Zusätzlich setzte er lange absichtlich aus, was ihm auswärts gefiel und er auch daheim sehen (und abschießen) wollte. Manche Fremdlinge erwiesen sich als bemerkenswert anpassungsfähig. Vor allem in den Städten fanden sie ihre Lücken. Nicht selten verdrängten sie die ursprünglichen Arten.

Heute gibt es eigentlich in keiner Stadt eine ‚landestypische‘ Flora oder Fauna mehr. Schilthuizen nimmt uns mit auf seine Spaziergänge durch das heimische Leiden. Wohin er schaut, mischen sich über und unter Wasser ‚Einheimische‘ und ‚Immigranten‘. In Paris beobachtet der Autor Schwärme inzwischen wildlebender Sittiche, die aus Indien kamen. Sie haben keine Probleme mit den europäischen Wintern, da es in der Stadt stets wärmer als auf dem Land ist. Dabei sind die Biotope oftmals winzig: Forscher haben Mäusearten gefunden, die sich je nach Stadtpark-Herkunft unterscheiden. Spinnen können genetisch von einem Haus zum nächstens differieren.

Schon müssen die (menschlichen) Städter feststellen, dass ihre Naturliebe dort Grenzen findet, wo die neuen Mitbürger groß, selbstbewusst und sogar angriffslustig sind. Wildschweine, Elche, Wölfe: Sie stehen offenbar bereit zur Besiedlung neuer Territorien. Hinzu kommen eher unauffällige Einwanderer, die exotische Krankheitserreger in sich tragen. Die Pest lässt sich heute behandeln, aber der Gegner schläft nicht und mutiert. Im Positiven wie im (für den Menschen) Negativen ist die Natur für Veränderungen offen! Was dies bedeutet, wird zukünftig beobachtet und erforscht und hoffentlich von Fachleuten wie Marten Schilthuizen erläutert.

Fazit:

Das vergleichsweise junge Phänomen der städtischen Tier- und Pflanzen-Evolution wird vom fachkundigen Verfasser außerordentlich verständlich und unterhaltsam erklärt sowie anhand zahlloser Beispiele erläutert. Persönliche Erinnerungen und Anekdoten lenken nicht vom Thema ab, sondern leiten geschickt auf weitere Informationen über: auch (oder gerade) für Laien eine jederzeit lohnende Lektüre.

Darwin in der Stadt

Menno Schilthuizen, dtv

Darwin in der Stadt

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