Betrachtungen zur Schwulenfrage

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Yannic Niehr
7101

Sachbuch-Couch Rezension vonApr 2020

Wissen

Eribon kann mit einer gewaltigen Menge an Wissen aufwarten, wie der erwähnte ausführliche Anhang bezeugt. Der reine Informationsgehalt ist enorm.

Ausstattung

Enthalten sind ein Vorwort und ein abschließendes Kurzessay über Hannah Arendts Ansichten zum Thema Diffamierung. Darüber hinaus gibt es ein hilfreiches Namensregister und einen ausführlichen Anhang voller Quellen und Anmerkungen. Der Rest ist angemessen schlicht.

Eine Geschichte der Unterwerfung, aber auch des Widerstands

Homosexualität ist ein gesellschaftlich kontrovers diskutiertes Thema – das gilt heute wie schon vor Jahrhunderten. Die Diskurse dazu haben dabei selbstverständlich eine Vielzahl an Transformationen durchlaufen. Diesen widmet sich der französische Schriftsteller Didier Eribon in seinen Betrachtungen zur Schwulenfrage. Ursprünglich erschien das einschlägige Werk bereits 1999, doch hat Eribon zwischenzeitlich (wie er im Vorwort darlegt) den Inhalt abgeändert und teilweise ergänzt – eine Notwendigkeit, die dem rapiden Wandel soziokultureller Anschauungen geschuldet ist. Herausgekommen ist ein Überblick über Herangehensweisen, Kontexte und Historie, in welcher Eribon in drei inhaltlich unterschiedlich gelagerten Abschnitten einen Dialog mit der Schwulenfrage (wie immer diese lauten mag) eröffnet.

„Am Anfang war die Beleidigung“

Zunächst widmet sich Eribon der Frage einer schwulen Identität und wie diese von äußeren Anfeindungen geprägt ist. Dieser Abschnitt behandelt vorrangig die Moderne und beschreibt, wie homosexuelle Männer sich in heutigen sozialen (Mikro- wie Makro-, öffentlichen wie privaten) Kontexten bewegen, sich diesen anpassen bzw. solche erschaffen. Das Moment der Beleidigung wird dabei als eine der einschlägigsten und grundlegendsten Erfahrungen postuliert, ungewollter Dreh- und Angelpunkt des „Schwul-Seins“. Im Zuge dessen werden u.a. auch die Stadtflucht junger Homosexueller sowie die Herausbildung schwuler Subkulturen in verschiedenen Epochen des 20. Jahrhunderts beleuchtet sowie unterschiedliche Ansichten zum schwulen Leben abgewogen, z.B. die fortdauernde Debatte zwischen Selbst-Getthoisierung und Assimilation, Anpassung und revolutionärem Potenzial – ohne dabei die Frage in den Hintergrund rücken zu lassen, inwieweit diese Konflikte von „innen“ bzw. von „außen“ her gesteuert sind. Wie auch in den anderen Abschnitten, greift Eribon dabei auf ein breites Spektrum an wichtigen Vertretern aus Geisteswissenschaften und Literatur zurück. Hier liest sich das Buch am griffigsten und auch am unterhaltsamsten. 

„And I? May I say nothing, Mylord?“

Es folgen historisch geprägte Kapitel, die sich den geschichtlichen Wurzeln widmen. Dieser Abschnitt steht ganz im Zeichen von Oscar Wilde, dessen berüchtigter Prozess einschließlich Verurteilung für homosexuelle Handlungen (wenn auch dieses aus damaliger Sicht abscheulichste aller Laster nicht beim Namen genannt wurde) einen Wendepunkt im Fremd- und Selbstverständnis schwuler Männer darstellte und sie betreffende Fragen moralischer Verurteilung, wie auch entsprechende Gegenentwürfe erstmals in nie gekanntem Ausmaß ins Licht der Öffentlichkeit rückte. Eribon zeichnet hier die Werke klassischer Romanciers nach (einschließlich einer kritischen Betrachtung der griechischen Auffassung homosexueller Handlungen), die zu diesem Punkt geführt haben, aber auch, wie es danach weiterging und eine eigenständig schwule Identität erst hervorgebracht werden musste.

„Die Arbeit der Emanzipation kann nur als eine Aufgabe begriffen werden, die stets von neuem zu beginnen ist“

Im letzten Abschnitt widmet Eribon sich dem Geisteswissenschaftler Michel Foucault (dessen Biographie er auch verfasste), einem der wohl wichtigsten Philosophen zu den in diesem Buch behandelten Themenkomplexen. Zwar beschäftigte sich Foucault nicht ausschließlich explizit nur damit, doch sind seine Überlegungen zu gesellschaftlichen Prozessen prägend. Erläutert werden dabei Begriffe, die in Foucaults Schaffen immer eine zentrale Rolle gespielt haben: Macht und Unterwerfung, der Diskurs, die Heterotopie. Eribon zitiert hier großzügig aus den Schriften des Denkers, stellt ihnen (eigene wie auch anderweitige wissenschaftliche) Stimmen gegenüber und zeichnet so Foucaults Lebenswerk und Argumentationslinie nach. Besonders interessant ist hierbei die Rolle der Psychiatrie in der Klassifikation menschlicher Sexualität einschließlich der von ihr erstmals in Stein gemeißelten Devianzen oder „Perversionen“ – ein Prozess, welcher „den Homosexuellen“, wie man ihn heute nennt, erschufen. Gleichzeitig wird hier die Hoffnung laut auf eine Schaffung paralleler schwuler Räume, die mit einer Vielzahl von Identitäten und damit der Schöpfung neuer Ausdrucks- und Beziehungsmöglichkeiten für alle Menschen einherginge. So reiht sich Eribon mit offenem Ausgang in das nie ein Ende findende Projekt antidiskriminatorischer Praktiken ein.

Fazit:

Didier Eribon hat ein sehr dichtes, wenn auch stellenweise überfrachtetes Werk verfasst, welches sich dem Thema Homosexualität nicht unbedingt provokant oder allzu originell nähert. Vielmehr wird es sein Anspruch gewesen sein, einen erfrischend differenzierten und persönlichen Überblick über literarische, philosophische, (geistes-)wissenschaftliche, psychoanalytische, historische, politische und gesellschaftliche Hintergründe und Ansätze zum Phänomen schwuler Männer (weibliche Homosexualität klammert Eribon bewusst aus, da diese ein eigenes Buch benötigen würde) vorzulegen und sich dabei die (Schwulen-)Frage zu stellen, was die Zukunft bringen wird. Insofern ist dem Autor ein umfassendes Kompendium von Schlüsselmomenten der Queer Studies gelungen – nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Betrachtungen zur Schwulenfrage

Didier Eribon, Suhrkamp

Betrachtungen zur Schwulenfrage

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