Innenansicht eines gespaltenen Landes
Christoph Reuter ist Journalist und Autor dessen Berichte, wie auch Bücher nationale und internationale Auszeichnungen erhielten. Er berichtet seit 20 Jahren für den Spiegel aus unterschiedlichen Krisengebieten. Seine bevorzugte Region ist dabei die arabische Welt, doch seit Ausbruch des Ukraine-Krieges informiert er auch aus dieser Region. Reuter kennt Afghanistan, wie kaum ein anderer Journalist. Seit 20 Jahren bereist oder lebt er in diesem Land, das seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommt. Als im August 2021 die Taliban das Land unter ihre Kontrolle bekamen, ergriff Reuter die Gelegenheit, auch außerhalb der bis dahin als sicher geltenden Regionen das riesige Land zu bereisen. Sein „Roadtrip“ gibt Einblicke, die ebenso spannend, wie erschütternd sind.
Was hat der NATO-Einsatzes gebracht?
Christopf Reuter besuchte 2002 zum ersten Mal Afghanistan, lebte von 2008 bis 2011 in Kabul. Er erlebte die Veränderungen im Land mit, erfuhr durch seine Recherchen Hintergründe und Tatsachen, die wir als außenstehende Betrachter im sicheren Westen so kaum wahrnehmen konnten. So erschüttert es jedes Mal, wenn er in den ersten und dann immer einmal wieder in den folgenden Kapiteln die Aussichtslosigkeit des NATO-Einsatzes beschreibt. Hier prallten nicht nur zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein konnten, hier wurde auch gezielt Desinformation betrieben, eine Welt der Korruption aufrecht erhalten und mit Menschenleben mehr als fahrlässig umgegangen. Das ernüchternde Resümee des Autors kann deshalb nicht ausbleiben und wird bei der Leserschaft zumindest Nachdenklichkeit erzeugen.
Afghanistan heute
Afghanistan ist ein riesiges Land, mit Provinzen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Bevölkerung und Gesellschaft sind geprägt von Stammes- und Clanstrukturen. Gerade die Landbevölkerung erhält, wenn überhaupt nur eine rudimentäre Ausbildung; viele sind Analphabeten, die Macht der lokalen Ältesten ist noch immer groß und der Einfluss der religiösen Führer sowieso. Auf seinen abenteuerlichen Reisen durch das ganze Land, berichtet Reuter aus den unterschiedlichen Provinzen, die alle auch unterschiedliche Probleme haben. Sie müssen z.B. mit Dürren kämpfen, Menschen laufen Gefahr mit absurden Begründungen enteignet zu werden oder leben in ständiger Angst vor Verhaftung und Verschleppung. Zudem kommen noch die Rivalitäten zwischen Suniten und Schiiten und die scheinbare Allmacht der Paschtunen über die anderen Stämme. Die Machtübernahme der Taliban hat daran nichts geändert und sorgt noch für zusätzliche Schwierigkeiten. Reuter beschreibt aber auch die Probleme der Taliban, die zwar die Macht im Staat haben, aber plötzlich ohne den Geldtropf des Westens auskommen müssen, der Afghanistan bis dahin am Laufen und Leben hielt. Zudem müssen sie ihre Anhänger in den Provinzen bei Laune halten, damit diese und ihre Gebiete nicht dem gefürchteten IS aus Pakistan zum Opfer fallen. Resultat sind massive Einschränkungen für Frauen und Minderheiten und auch für ausländische Journalisten, die das Zeitfenster der (fast) problemlosen Berichterstattung aus dem Land wieder zugehen sehen.
Willkommen in Absurdistan
Christopf Reuter schafft es umfangreiche Informationen verständlich und unglaublich fesselnd zu vermitteln. Mit viel Humor berichtet er von den aberwitzigsten Situationen und manchmal auch gefährlichen Vorkommnissen und erlaubt dabei tiefe Einblicke in die afghanische Gesellschaft und ihrer Probleme. Das Buch ist damit kein trockenes Sachbuch, das Fakten heruntererzählt, sondern wirklich ein Bericht über einen Roadtrip, der packender nicht sein könnte. Ein Mittelteil aus 16 Seiten Fotos ergänzt diese Informationen dabei optisch und entführt noch einmal zusätzlich in ein Land, das manchmal so absurd erscheint, dass man es kaum glauben kann. Es ist einfach spannend Reuter zu Menschen zu begleiten, die fast wie auf einem anderen Planeten zu leben scheinen. Die Lebensumstände sind prekär und die Strukturen manchmal regelrecht archaisch. Die Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen macht diese Buch so lebendig und ermöglicht eine andere. menschlichere Perspektive auf Land und Leute. Reuter schafft es aber neutral zu bleiben und erzählt auch von den Zwängen und Problemen, mit denen das Talibanregime umgehen muss. Gleichzeitig zeigt er auch was während dem NATO-Einsatz alles falsch lief und erlaubt so einen ganz anderen Blick auf die Zusammenhänge.
Fazit
Spannender und packender Bericht aus einem Land, das mit zahlreichen Problemen zu kämpfen hat. Mit viel Humor und tiefen Einblicken veranschaulicht Reuter komplizierte Sachverhalte und erzählt von seinen teilweise absurden Erlebnissen während seines Roadtrips. Ein absolut empfehlenswertes Buch für alle, die Afghanistan interessiert oder die in ein aktuelles politisches Thema eintauchen wollen, das uns alle betrifft.
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