Wespen

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Michael Drewniok
8101

Sachbuch-Couch Rezension vonMai 2024

Wissen

Hier schreibt jemand, die Wespen nicht nur liebt (!), sondern zu den Menschen gehört, die ihr Wissen teilen wollen und können.

Ausstattung

Auch fast ohne Illustrationen gelingt es der Autorin, selbst schwierige Sachverhalte in (gut übersetzten) Worten darzustellen.

Wir werden sie ohnehin nicht los ...

Man kann sie nicht leiden, denn sie stören, sobald sie auftauchen - dies vor allem, sitzt man an einem sonnigen spätsommerlichen Nachmittag auf der Terrasse, um ein Stück Pflaumenkuchen zu genießen. Dann ertönt das verhasste Summen, und der erste gelbschwarze Plagegeist beginnt mit seinen unermüdlichen Attacken. Wespen sind stur wie Panzer und lassen nicht nach im Kampf um ihren Anteil. Schlimmer noch: Wird der menschliche Widerstand aus ihrer Sicht zu intensiv, holen sie ihre Kumpane und/oder gehen zum Angriff über: Wespen stechen nicht nur - und das mehrfach! -, sondern injizieren dabei eine Giftmischung, die auf nachträglich anhaltenden Schmerz zielt.

Kein Wunder, dass die zusammengerollte Zeitung nie fern ist, wenn der fiese Feind gesichtet wird! Dabei gerät in den Hintergrund, dass wir gegen jemand antreten, der die Evolution schier mühelos dominiert. Schließlich sind sowohl die Ameise als auch die deutlich besser beleumundete Biene Nachkommen von Ur-Wespen, die bereits die Dinosaurier in Rage versetzten. Weit mehr als 100000 Arten sind heute bekannt, aber Fachleute gehen davon aus, dass bisher nur ein Zehntel aller Wespen identifiziert wurden. Zudem richtet sich unser Zorn gegen eine Minderheit: Mehrheitlich treten Wespen weder in Schwärmen auf noch verfügen sie über Giftstachel.

So fällt es Autorin Seirian Sumner, in Wales geborene und aufgewachsene Spezialistin für die Ökologie und das Verhalten von Insekten, relativ leicht, uns Wespenhasser ins Gewissen zu reden bzw. dorthin zu führen, wo sie uns mit Fakten eines Besseren belehren bzw. faszinieren kann: Die Wespe, jenes allgegenwärtige, langweilige, lästige Untier, ist eine wahre Wundertüte der Natur sowie ungeachtet ihrer Winzigkeit ein elementarer Baustein dieser Welt.

Ein Wald von Lanzen für ein verrufenes Insekt

Sumner gehört zu jenen (auffallend oft aus Großbritannien stammenden) Wissenschaftlern, die enormes Fachwissen mit dem Willen und der Fähigkeit verknüpfen, dieses mit möglichst vielen Menschen zu teilen. Niemand fürchte sich also vor diesem recht seitenstarken Buch, das einem Hau-drauf-Insekt gewidmet ist! Gerade hinter dem angeblich Bekannten bzw. Uninteressanten verbirgt sich oft eine breite Palette unerwarteter Fakten. Die Wespe kann in dieser Hinsicht mit allen anderen Tierarten mithalten oder sie in den Schatten stellen!

Dass sich naturwissenschaftliche Laien (oder Banausen) darauf einlassen, liegt auch an Sumners Talent zu schreiben. Ohne es jemals an thematischer Präzision fehlen zu lassen, beherrscht sie einen leichten Ton und fürchtet nicht die Abschweifung oder Anekdote dort, wo sie einen komplexen Fakt allgemeinbegreiflich machen kann. Selbst wenn sich die Autorin in die biochemischen und genetischen Details des Wespenhirns vertieft, verlieren die Leser nie den Anschluss. Sumner weiß, wie sie ihr Publikum bei der Stange halten kann! Nicht einmal Abbildungen (vorhanden, aber zahlenarm und faktisch überflüssig) sind erforderlich; der Text an sich sorgt für Aufmerksamkeit.

Die erwähnten Fakten sind auf Sumners Seite. Es leuchtet ein, dass sich 100000 Wespenarten nicht über einen Kamm scheren lassen. Sie unterscheiden sich nicht nur in der Größe. Dumpf brummende Riesen wie die Hornisse stehen noch keineswegs an der Spitze der Größenskala, und am unteren Ende tummeln sich Winzlinge, die kaum einen Millimeter messen, aber ebenfalls agil ihren Geschäften nachgehen. Es gibt vegetarische Wespen, die zudem Honig (!) sammeln und Blüten bestäuben, und vor allem Wespen, die gar keinen Stech-, sondern einen Legestachel besitzen, den sie (= die Weibchen) nutzen, um Eier direkt in die Leiber fetter Raupen oder Spinnen zu injizieren, die von den schlüpfenden Jung-Wespen lebendigen Leibes verspeist werden.

Viele Wespen werden weitgehend ahnungslose Zeitgenossen nicht einmal als solche erkennen, sondern sie für Fliegen oder Bienen halten. Selbst in Europa stellen die Schwarz-Gelb-Wespen eine Minderheit dar. Unzählige Arten führen ein völlig unauffälliges, den Menschen links liegenlassendes Dasein. Selbst die Pflaumenkuchendiebe (s. o.) treten nur zeitweilig als solche auf. Gelüstet es ihnen nicht nach Süßem, machen sie Jagd auf andere Insekten, die in Wald, Feld und Garten massive Schäden anrichten: Plötzlich gewinnt die profane Wespe einen ‚Wert‘, sie wird ‚nützlich‘.

Wespe und/gegen Mensch

Wer als Tier in dieser Schublade landet, kann mit Vorteilen rechnen. Niemand weiß dies besser als der Wespe strahlendes Spiegelbild, die Biene. Sie sammelt Pollen, bestäubt dabei Pflanzen, die der Mensch erntet, und erzeugt Honig, den sie sich vergleichsweise unkompliziert abnehmen lässt. Sticht sie zu, reißt sie sich mit dem Stachel die Innereien aus dem Leib und stirbt, was dem gepeinigten Opfer Trost spendet.

Was die Wespe direkt frisst oder in ihre Brutkammer schleppt, fällt dem Menschen nicht so deutlich auf. Fachleute können hier aufklären. Sumner sorgt für Spannung, indem sie wahre Gladiatorenkämpfe zwischen Wespen und durchaus wehrhaften Beutetieren schildert, aber auch für Heiterkeit, wenn sie die Schwierigkeiten und Leiden der Wespen-Spezialisten beschreibt, die ihre Lieblinge bei ihren Alltagsgeschäften beobachten wollen. Dennoch lassen sie, die gegenüber den Bienen-Freunden in der Minderzahl sind, nicht locker. Das war schon immer so; Sumner wirft einen Blick zurück auf Held/inn/en der Vergangenheit, die keine Mühen (und Stichschmerzen) scheuten, um hinter das Privatleben der Wespe/n zu kommen: Sie bestätigt dabei, dass man schon aus außergewöhnlichem Holz geschnitzt sein muss, um ein Forscherleben auf diese Weise zu verbringen, und reiht sich umgehend und freudig selbst in diese Reihe ein.

Darüber hinaus hat die kleine Wespe Großes im Rahmen der Menschheitsgeschichte geleistet. So verdanken wir ihr u. a. Denkanstöße für die Herstellung von Pappmaché und Papier, denn aus diesem Material bestehen die Nester der Pflaumenkuchendiebe! Ohnehin verbirgt sich im Wespeninneren eine bemerkenswerte biochemische Naturfabrik: Was diese Insekten produzieren, um ihre Opfer zu töten, zu lähmen oder ‚frisch‘ zu halten, erregt seit längerer Zeit das Interesse jener Firmen, die in der Natur eine Apotheke exotischer Gifte bzw. Heilmittel sehen, mit deren Hilfe man nicht nur Krankheiten angehen, sondern auch Schadinsekten eindämmen kann. Mit dem Blick in eine kenntnisverheißungsvolle Zukunft der Wespen-Forschung schließt Sumner ihr Werk. Sie konnte uns ihre Favoriten nicht unbedingt ans Herz legen, aber unmissverständlich klarstellen, dass (und wieso) diese Welt ohne die Wespe/n ärmer wäre!

Fazit

Bemerkenswertes Sachbuch, das ein vorgeblich langweiliges oder lästiges Objekt so ins Zentrum stellt, dass daraus ein hochinteressantes Werk entsteht. Reich an Fakten, aber arm an wissenschaftlichem ‚Spezialisten-Talk‘, sondern allgemeinverständlich und sogar witzig enthüllt die Autorin die Geheimnisse eines ganz & gar nicht überflüssigen Insekts.

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