Genie & Wahnsinn – Irrtum & Tod.
Sie lernen sich in den frühen 1970er Jahren kennen und werden dicke Freunde: Jonathan Rosen und Michael Laudor erleben gemeinsam die Freuden und Schrecken der Jugend und genießen eine zwar nicht durch Vermögen, aber durch Wissen geprägte Zeit. Beider Eltern sind Akademiker, die ihre Kinder ermuntern zu (hinter-) fragen und zu forschen.
So ist es wohl unvermeidlich, dass sowohl Jonathan als auch Michael studieren. Hier setzt sich fort, was Jonathan immer wieder erleben muss: Während er sich anstrengt, um Schritt zu halten, gleitet Michael mühelos durch sein Studium, das er in Rekordzeit und mit Bestnote abschließt. Anschließend wechselt er in die Wirtschaft und verdient viel Geld.
Doch in seinen Zwanzigern wird Michael krank. Er benimmt sich auffällig und wird schließlich eingewiesen. Man stellt Schizophrenie bei ihm fest, eine Störung, die zu dieser Zeit nicht wirklich behandelt werden kann. Damit wäre Michaels Laufbahn eigentlich beendet. Doch er stellt sich seinen Dämonen und erfährt viel Rückhalt im akademischen Milieu. Michael studiert Jura und wird zu einem Botschafter für die Menschen mit ‚seiner‘ Krankheit.
Seine Intelligenz hat er nicht verloren, aber außerdem gelernt, sich zu verstellen: Michael geht es nicht annähernd so gut, wie er seine Umgebung glauben lässt. Tatsächlich steckt er bereits tief in einem psychotischen Schub, der kollektiv so lange ignoriert wird, bis es zu einer Katastrophe kommt ...
Wir glauben, was wir glauben wollen
Vorab eine ‚Warnung‘: „The Best Minds“ ist weder ein Kriminalroman noch ein auf ein Verbrechen zielendes „True-Crime“-Sachbuch. Wenn es hier trotzdem im Umfeld solcher Werke besprochen wird, so liegt dies daran, dass „Krimi“ (zu) oft zu strikt definiert wird - als Beschäftigung mit einer Tat, die entweder im juristischen oder im moralischen Sinn als Verstoß gilt und geahndet wird. In der Regel geht es um Raub und Mord und den Weg dorthin, die Aufklärung und die Folgen. Schon dies beschreibt ein Geschehen, das über das jeweilige Verbrechen hinausgeht. Insofern ist es begründbar, die Eingrenzung zu erweitern und Geschehnisse einzubeziehen, die keine offiziell begangene Straftat darstellen. Dazu gehört der bekannte, aber geduldete Missstand.
Gemeint ist nicht jene Auffassung praktisch sämtlicher Gesetzgebungen dieser Welt, dass Unwissenheit vor Strafe keineswegs schützt. Auch im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangene Taten werden daher nicht nur ebenso intensiv untersucht wie ein ‚richtiges‘ Verbrechen, sondern auch geahndet - durch ein Urteil, das wie in unserem Fall den Täter nicht ins Gefängnis bringt, ihm aber trotzdem die Freiheit nimmt, weil eine Wiederholung der Tat im Rahmen des Möglichen oder sogar Wahrscheinlichen liegt.
Es geht eher um die im Fall Michael Laudor juristisch nicht verfolgbare, aber auf jeden Fall moralische Mitschuld einer Gesellschaft, die nicht sah oder besser: sehen wollte, dass sich eine Krise anbahnte. Dies widersprach einer kollektiven Erwartungshaltung, die einen guten Glauben widerspiegelte, aber nicht die reale Situation abbildete. Das Resultat war ein quasi angekündigtes Verbrechen, für das niemand die Schuld übernehmen wollte.
Der unangenehme Moment der Erkenntnis
Sein langjähriger Freund Jonathan Rosen zählte über Jahrzehnte zu denen, die Laudors Weg einerseits begleiteten, während sie andererseits ihre Augen dort verschlossen, wo sich die Wahrheit unerfreulich bemerkbar machte. „The Best Mind“ ist ein oft selbstkritischer, aber darüber hinaus den Hintergrund erleuchtender Blick in eine Vergangenheit, um über den Fall Laudor hinaus auf ein generelles Versagen hinzuweisen.
Die detailreiche Beschreibung von Versäumnissen und Irrtümern, aber auch von politisch sanktioniertem Unrecht sorgt für ein Unbehagen, das mit der unschuldigen Freude an fiktiven Kriminaltaten wenig zu tun hat. Rosen legt buchstäblich den Finger in eine offene Wunde. Diese klafft nach wie vor dort, wo sich Politik und Medizin nicht treffen und zusammenarbeiten, sondern auf ihre spezielle Weise versagen, wo sie helfen müssten, es aber nicht tun, weil dies sich mit Gegeninteressen beißt.
Die Politik handelt pflichtvergessen, wofür sie wie üblich ‚ökonomische‘ Gründe vorbringt. Rosen fasst in deutliche Worte, was so niemand offen ausspricht, obwohl es den Ist-Zustand beschreibt: Die meist langwierige und von Rückschlägen begleitete Behandlung psychisch kranker Menschen ist kostspielig. Ein Gesundheitssystem, das diesen Namen verdient, gibt und gab es in den USA nicht. Rosen sucht nach Ursachen und findet sie vor allen in den späten 1970er und 1980er Jahren, als unter dem Einfluss konservativer und ‚praktisch‘ denkender Präsidenten und Politiker die Mittel für „unproduktive“ Elemente der Gesellschaft rigoros zusammengestrichen wurden. Man fand sogar Unterstützung im normalerweise ‚feindlichen‘ Lager, verbündete sich mit ‚Wissenschaftlern‘, die eine Existenz geistiger Krankheiten überhaupt negierten, sondern die Grenzen dessen, was als „psychische Gesundheit“ definiert wurde, einfach so weit fassten, dass Kliniken geschlossen und deren Insassen auf die Straße gesetzt werden konnten, wo sich hoffentlich (aber nicht sicher) mitleidige Mitmenschen auf eigene Kosten um sie kümmern würden.
Der Sündenfall der Medizin
Offenkundig waren sich die Forscher selbst nicht einig, wie man sich um geistig kranke Menschen kümmern sollte. Noch im 20. Jahrhundert wurden sie in Anstalten weggeschlossen und oft lebenslang dort festgehalten, also nicht behandelt, sondern so verwahrt, dass sie den ‚Gesunden‘ keine Angst einjagen und Inklusion einfordern konnten. Erst die parallele Entwicklung der Psychologie und die Entdeckung von Medikamenten, die gezielt auf Bereiche des Gehirns wirkten, erweiterte den Spielraum für eine effektive Behandlung.
Aber auch Fachleute sind nur Menschen. Rosen rekonstruiert die Vergangenheit einer Wissenschaft, deren Vertreter sich uneins waren. Die Interpretation von Symptomen unterlag nicht objektiven Beurteilungen, sondern wurde ideologisch bestimmt. Lange blieb die menschliche Psyche so fremdartig, dass sie sich sehr unterschiedliche Denkmuster einpassen ließ. Grenzen verschwammen: Seit den 1960er Jahren wurde mit Drogen experimentiert und diesen oft verfrüht oder gänzlich unbegründet medizinische Wirkung unterstellt. Die „Freiheit des Geistes“ galt als neue Norm und der ehemals „Verrückte“ nun als Repräsentant oft ‚kosmischer‘ Wahrheiten.
Theorien und Ideologien blieben nicht auf die Medizin beschränkt. Die Geisteswissenschaften stürzten sich auf das Thema in seinen unendlichen Verästlungen. Akademiker und Intellektuelle argumentierten nicht sachlich, sondern emotional. Das sollte hier weitreichende Folgen haben: Statt einen eindeutig kranken Mann wie Michael Laudor als solchen zu erkennen, ließ man ihn als Paradebeispiel für den „modernen Menschen“ so walten, wie es ihm auch der Wahnsinn eingab.
Welche Schlüsse zieht man daraus?
Rosen hat sich selbst lange blenden lassen - weniger von Laudor, sondern von einem Umfeld, in dem Misstrauen und Eingreifen als menschenfeindliches Verhalten galt. Werde selig nach deiner Façon; das ist ein Ideal, das sich mit der Realität nur bedingt vereinbaren lässt. Gute Absichten ersetzen kein Wissen und die daraus resultierenden Aktionen. Rosen hat dies durch die Laudor-Tragödie erkannt und drängt auf ein Umdenken und eine Gesellschaft, die für ihre schwachen Mitglieder sorgt, sich nicht von politisch-‚ökonomischen‘ Erwägungen leiten lässt sowie jenen akademischen Tunnelblick vermeidet, der einem kollektiven Fehlverhalten den Weg bereiten kann.
„The Best Minds“ zählt in der deutschen Übersetzung mehr als 800 Seiten. Schon der Umfang weist darauf hin, dass der Verfasser ein großes Rad zu drehen gedenkt. Seine Verbindung mit Michael Laudor wird einerseits in den Mittelpunkt gestellt, dient andererseits jedoch als Anker, mit dem historische Strömungen fixiert werden, die eine ganze Nation betreffen. Obwohl sich Rosen manchmal ein wenig in seiner Geschichte verirrt und sich in Details verliert, die interessant, aber nicht wirklich relevant sind, wird und bleibt immer deutlich, was er zu sagen hat.
Als Zeitzeuge ist er nicht nur Teil des historischen Netzes. Er zappelt selbst darin und macht keinen Hehl daraus, was für ihn spricht sowie die scheinbaren Abschweifungen erklärt: Rosen muss mit sich kämpfen, denn auch er hat sich in Michael Laudor geirrt, ihn lange sogar für eine Genialität beneidet, die krankhaft angefeuert wurde, und sich vor der sich deutlich abzeichnenden Erkenntnis gedrückt, dass der Freund eine Grenze überschritten hatte. Immerhin gehört Rosen zu denen, die Laudor weiterhin besuchen. Dieser ist seit dem von ihm begangenen Mord nicht mehr freigekommen. Er wird in einer Einrichtung betreut, denn eine stabile Heilung ist offenbar unmöglich. Ein Happy-End hat diese Geschichte also nicht.
Fazit
Biografischer Rückblick auf einen Freund des Verfassers, der ebenso genial wie geisteskrank war und schließlich einen Mord beging. Die Erzählung erfasst auch die moderne Gesellschaftsgeschichte der USA und ihre verhängnisvollen Abwege: eine intensive, manchmal abschweifende, aber zielgenau treffende Darstellung.

Deine Meinung zu »The Best Minds«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!