Über den Beitrag der Virologie zur Ökonomie
Bitcoins haben keine Nationalität. Dadurch wirken sie global-demokratisch und durch Regierungen und Finanzinstitutionen nicht kontrollierbar. Wer Bitcoins hat, kann sich als anti-kapitalistisch und anti-nationalistisch verstehen. Diese Sicht ist Bestandteil des äußerst erfolgreichen ökonomischen Bitcoin-Narrativs, das als ansteckende Story auf die Entscheidungsfindung von Menschen wirken kann. Robert Shiller, Ökonom an der Yale University und Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften (2013), präsentiert in „Narrative Ökonomie“ Vorstellungen, die er über einen Zeitraum von bald zwanzig Jahren, teils in Zusammenarbeit mit Kollegen, entwickelt hat. Seine Ausgangsüberlegung ist, dass menschliches Handeln sich häufig stärker an Geschichten über die Wirklichkeit als an Daten und Fakten orientiert. Ihn interessiert, wie solche Geschichten sich viral ausbreiten und ökonomische Entscheidungen beeinflussen können.
Narrative als Mittel zum Verständnis ökonomischer Probleme
Am Beispiel unterschiedlicher Themen wie Kryptogeld und Bitcoin, Immobilien und Börse beschreibt Shiller Narrative, die auf vielfältige Weise entstanden sind, so durch Gerüchte, Erinnerungen an vergangene Geschehnisse, die widersprüchlichen Einschätzungen zum Goldstandard, zur künstlichen Intelligenz und Automatisierung des Arbeitslebens. Er glaubt, dass wir aus ökonomischen Narrativen lernen können, besser mit einschneidenden Entwicklungen in der Wirtschaft (wie Rezessionen oder Depressionen) umzugehen. Weiter geht er der Frage nach, ob Narrative geeignet sind, vielleicht besser als ökonometrische Modelle Wirtschaftsgeschehen zu prognostizieren. Narrative Kausalität wirkt in beide Richtungen: Narrative beeinflussen die ökonomische Wirklichkeit, die wiederum Narrative beeinflusst. Zur Entwicklung und Unterfütterung seiner Argumente über den Aufstieg und Niedergang von Narrativen zitiert er oft und umfangreich aus alten Quellen, gerne aus Zeiten der großen Depression 1929.
Geschichten gehen viral
Narrative folgen einer epidemischen Ausbreitungslogik, gehen viral, infizieren gelegentlich eine hinreichend große Anzahl Menschen (der Begriff Durchseuchungsgrad ist uns allen wohl durch die Corona-Epidemie bekannt) und werden dann primärer Bestimmungsfaktor für menschliches Verhalten. Robert Shiller zeigt, dass Emotionen in der Lage sind, Fakten zu beeinflussen – oder gar erst zu erschaffen. Andererseits werden Emotionen durch ökonomische Narrative beeinflusst oder erzeugt. In den letzten Jahren beschäftigt sich ein mittlerweile recht umfangreicher ökonomischer Literaturbestand mit der Frage, wie die menschliche Wahrnehmung sich auf das Wirtschaftsgeschehen auswirkt und umgekehrt und ob historische Narrative Informationen zum Verständnis und zur Prognose künftiger Entwicklungen liefern können.
Schwache Ideen und Verschwörungstheorien
Shiller führt an, dass auch einer kaum durchdachten Idee die Kraft zum Narrativ innewohnen kann, dass auch Verschwörungstheorien sich zu Narrativen auswachsen können, die eine Veränderung induzieren. Er beschreibt verschiedene Qualitäten von Narrativen. So können Narrative den Kern einer Entwicklung bilden, zu deren Motor werden. Oder sie können eine Entwicklung begleiten und auf der Entwicklungsspur wie eine Schranke oder Weiche wirken. Entscheidend ist für Narrative, dass sie irgendwann viral gehen. Das gibt Shiller die Gelegenheit, uns detailliert über Viren und deren Ausbreitung zu informieren. Wir können glauben oder eben auch nicht, dass Narrative durch Ereignisse verursacht werden, Ereignisse durch Narrative, und dass man vielleicht Wirkungsrichtungen identifizieren und isolieren kann, um zu Aussagen zu gelangen. Empirische Evidenz scheint es nur in sehr geringem Maße zu geben. Shillers Perspektive auf das Problem basiert auf seiner Favorisierung bestimmter Vorstellungen darüber, wie Menschen denken, wie sie sich warum verhalten.
Rationales Handeln oder Entscheidungen auf Basis weniger Informationen
Eins der großen Probleme der traditionellen Wirtschaftswissenschaften, vor allem seit der Finanzkrise 2008, ist ihr Verhaltensmodell. Im Widerspruch zu diesem Modell trifft die Masse der Menschen ökonomische Entscheidungen, ohne gut informiert zu sein. Und wenn sie Narrativen folgen, hängen diese vielleicht stärker mit deren Vermarktung zusammen. Soll heißen, in einer aufmerksamkeitsökonomischen Umgebung wird die Aufmerksamkeit gesteuert und erzeugt Wirkungen. Und wenn man über nur wenige Informationen verfügt, die zu einem Problemverständnis beitragen können, ersetzt man das Narrativ durch die Fakten oder argumentiert man mit dem schwachen Narrativ?
„Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ ist einer der großen alten Western. Darin wird am Ende gesagt: Wenn die Legende zur Wahrheit wird, dann drucke die Legende. Wirecard könnte man hier als schräges Beispiel anführen. Die Frage nach dem Entstehungsort von Narrativen (Stammtisch, Wissenschaft, diffuse soziale Netzwerke, Börsen-TV) ist offenbar nicht ohne Bedeutung.
Fazit:
Shiller präsentiert in „Narrative Wirtschaft“ einen Überblick über bedeutende historische Narrative, identifiziert spannende Narrative der ökonomischen Gegenwart, formuliert ein paar Thesen und Fragen und grundiert das Ganze mit einem epidemiologischen Modell. Was er nicht macht: Er liefert keine geschlossene Analyse, formuliert kein Forschungsprogramm. Es gibt einige erzählerische Redundanz, einen mathematischen Anhang, 36 Seiten Endnoten und 35 Seiten als Literaturverzeichnis. Die Stärke des Buchs liegt darin, dass wir eine unterhaltsame Geschichte wichtiger und bekannter ökonomischer Entwicklungen als Narrative lesen.
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