Sich die Enttäuschung von der Seele schreiben.
Der Journalist Lorenz Hemicker ist Chef vom Dienst von FAZ-NET. Geboren wurde er 1978, aufgewachsen ist er in Kierspe, einer Stadt im Sauerland, im selben Haus, in dem auch sein Großvater wohnte. Den hat er nie kennengelernt, denn Ernst Hemicker starb bereits 1973. Doch was Ernst während der Zeit des Nazi-Regimes tat, beschäftigt den Enkel Lorenz noch heute.
Eine Ahnung führt zur Gewissheit
Schon der 5-jährige Lorenz bekam eine leise Ahnung davon, dass sein Großvater etwas Schlimmes gemacht haben musste, denn sein Vater machte immer wieder Andeutungen – selbst dem kleinen Sohn gegenüber. Später wurde es dann zur Gewissheit, dass Ernst Hemicker am grausamen Massaker von Rumbula beteiligt war. An nur zwei Tagen im Dezember 1941 ermordete die SS über 27.000 Menschen in einem kleinen Wäldchen in der Nähe der lettischen Hauptstadt Riga. Der Techniker Ernst Hemicker war Mitglied der SS und für die Planung der Gruben zuständig, welche die Opfer fassen sollten. Er dachte sogar an eine Rampe, damit die nächsten Opfer nicht auf die schon Toten springen mussten, sondern über die Reihe der Ermordeten gehen konnte, um sich dann für den eigenen Genickschuss auf diese zu legen. Nach Riga wurde Ernst Hemicker nach Österreich versetzt. Dort sollte er in der Nähe von Melk die Grabung von Tunneln beaufsichtigen. Zwangsarbeiter und Insassen von Konzentrationslagern mussten mit bloßen Händen Stollen in den Wachberg treiben, in denen die Waffenproduktion sichergestellt werden sollte. Nach dem Krieg lebte Ernst, als Mitläufer eingestuft, völlig unbescholten in seinem Heimatort Kierspe, bis er in einem Brief vom Landgericht Hamburg 1969 zur Beihilfe zum Mord in über 25.000 Fällen verdächtigt wurde. Doch nach den Voruntersuchungen kommt Ernst Hemicker aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes ohne Anklage davon.
Wer war Ernst Hemicker?
Diese Frage stellte sich vor allem sein Sohn Peter. Er litt unglaublich unter den Taten, die seinem Vater zur Last gelegt wurden. Sie prägten sein Leben bis zum Schluss. Peters Sohn Lorenz wollte mit ihm nach Rumbula fahren, um ihm vielleicht einen Abschluss zu ermöglichen, Frieden zu finden, doch Peter starb kurz vor der Reise. Jetzt fühlte sich Lorenz in der Pflicht, weniger wegen des Großvaters, den er nie kennengelernt hatte, sondern für seinen Vater Peter, der so schwer an einer Schuld trug, die nicht seine eigene war. Lorenz macht sich auf den Weg nach Rumbula und Melk. Er besucht Archive, wälzt Literatur, trifft Nachkommen von Zeitzeugen und manchmal auch die hochbetagten Zeitzeugen noch selbst. So lernt er die Person Ernst Hemicker immer mehr kennen. Und gleichzeitig kommt zwangsläufig die Frage nach überkommener Schuld und dem möglichen eigenen Handeln auf: „Hätte ich unter den damaligen Umständen die Kraft gehabt, einen anderen Weg einzuschlagen? Ich hoffe es … Es gibt keinen Grund für moralische Überlegenheit. Wenn ich mich heute umschaue, sind wir nicht weniger verführbar als die Generation vor uns. Rassismus ist wieder en vogue.“ Doch Schuld empfindet Lorenz nicht, eher eine Verantwortung, der er auch mit dem vorliegenden Buch nachkommt.
Persönliches und mehr
Lorenz Hemicker lässt uns an seiner Spurensuche teilhaben. Er erzählt in einem sehr angenehm nüchternen Ton, einem ausgefeilten Stil und erfolgreich um Neutralität bemüht, von seinen Erlebnissen und seinen Ergebnissen. Ernst Hemicker steht natürlich im Zentrum, doch spielen die historischen Vorkommnisse um ihn herum auch eine große Rolle. Gerade die NS-Zeit in Litauen wird in Deutschland kaum aufgearbeitet. Auch der Umgang mit SS-Angehörigen und Nazi generell während der Jahrzehnte nach dem Krieg wird mehr oder weniger subtil vermittelt. Das eigentlich sehr persönliche Buch zieht damit weitere Kreise und wird so zum Anstoß, über mehr als nur eine SS-Biografie nachzudenken. Leider fehlen Fotos, was aber einzusehen ist, da Ernsts Ehefrau so gut wie alle vernichtet hat und sie vielleicht auch dem Täter zu viel Präsens zugebilligt hätten. Dafür hat der Autor ausführliche Quellen- und Literaturangaben angehängt, die einer eventuellen eigenen Recherche weiterhelfen könnten.
Fazit
Ein sehr persönliches Buch, das aber über den im Mittelpunkt stehenden Großvater hinauswirkt. Wer sich für Fragen des Warums und den Nachwirkungen auf folgende Generationen interessiert, sollte „Mein Großvater, der Täter“ unbedingt lesen. Doch Lorenz Hemicker lässt sich nicht in die Reihe derjenigen einreihen, die unbedingt die Aufarbeitung der eigenen Familienvergangenheit während des 3.Reiches fordern. Es ist vielmehr auch ein Augenöffner für viele Themen, die gerade heute wieder aktuell zu werden drohen.

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