Kafka: Um sein Leben schreiben

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Thomas Gisbertz
9101

Sachbuch-Couch Rezension vonFeb 2024

Wissen

Das Buch überzeugt mit der klugen Verbindung von Fakten, Tagebucheinträgen und Wertungen des Autors.

Ausstattung

Neben einer umfangreichen Bibliografie bietet das Buch vor allem zahlreiche Verweise auf Kafkas Tagebücher. Dafür verzichtet es gänzlich auf Fotografien und Abbildungen.

Schreiben müssen, um leben zu können.

Am 24. Juni 2024 jährt sich der 100. Todestag einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren: Franz Kafka. Aus diesem Anlass erscheint über den großartigen Schriftsteller von Werken wie „Das Urteil“, „Der Process“, „Die Verwandlung“ oder „Das Schloss“ beim Hanser Verlag eine wunderbare Kurz-Biografie von Rüdiger Safranski. Dennoch werden nicht wenige fragen: Noch eine Kafka-Biografie? Ist nicht bereits alles über ihn gesagt und geschrieben worden? Lohnt sich das? Ja, es lohnt sich, denn Safranski erhebt gar keinen Anspruch auf eine umfassende Biografie des Autors, sondern setzt sich mit der Bedeutung des Schreibens für Kafkas Leben auseinander. So lernen wir den in Prag geborenen Autor auf eine ganz besondere Weise kennen, die es uns leichter macht, Kafka und sein Werk zu verstehen.

Das Schreiben als ein Muss

„Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein", schrieb Franz Kafka an seine Verlobte Felice Bauer. Das Schreiben als Existenz. Rüdiger Safranski erlaubt uns vor allem mithilfe seiner genauen Sichtung und Auswertung der Tagebücher Kafkas einen Blick über die Schulter des Autors, wenn er zum Beispiel nächtelang an seinen Romanen schreibt oder Briefe an die Frauen verfasst, die es in sein Leben schaffen sollen, aber es letztendlich nicht können.

Safranski bringt uns einen Menschen näher, der dem Schreiben alles unterordnet, der sein reines Glück nur im Schreibprozess und der Literatur findet und der seine Wirklichkeit erst dadurch konstruiert - eine Wirklichkeit, die ihm ansonsten oft fremd erscheint und Angst bereitet. Seine Werke sind Zeugnisse von existenziellen Grenzerfahrungen und entfalten dadurch eine ganz unmittelbare Kraft. Ein Leben ohne das Schreiben erscheint für Kafka vollkommen reizlos. Er zieht seine ganze Lebenskraft aus dieser Tätigkeit und diese lässt ihn erst wirklich lebendig werden. Vielmehr noch: „Das wahrhaftige Schreiben ist für Kafka gesteigertes, intensives Leben und nicht nur Lebens-Betrachtung.“ Kafka wird durch den Prozess des Schreibens zu einem Verwandelten und nur hier findet er sein wirkliches Ich.

Sprache, Lust und Freiheit

Kafka schrieb in erster Linie für sich und doch verlangte er nach Aufmerksamkeit. Oskar Pollak war während der Schulzeit und den ersten Jahren des Studiums dessen literarischer Vertrauter wie es später Max Brod wurde. Diese Bereitschaft sich mitzuteilen und zu öffnen erscheint insofern bemerkenswert, da Kafka nie wirklich von seinen Texten überzeugt war. Denn einfach ist das Schreiben in einer Zeit, die stark von Sprachskepsis geprägt ist, nicht: Wie lässt es sich vereinbaren, dass Sprache Wirklichkeit schafft und gleichzeitig die Welt nie mit Sprache angemessen begriffen werden kann? Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum Kafka so viele Erzählungen und Romane - wenn er sie nicht in einem Fluss und voller „schöpferischer Lust“ schrieb - unvollendet ließ, weil sie ihm entglitten. Spätere Korrekturarbeiten an seinen Manuskripten lassen sich bei ihm kaum finden.

Auch musste er mit dem Vorwurf des Vaters leben, seine literarische Leidenschaft offenbare nur mangelhafte „Lebenstüchtigkeit“. Safranski weist zurecht auf die ambivalente Existenz des Vaters hin: „Für Kafka war das Schreiben eine Lebensmacht, gegen die Macht der Vaterwelt gerichtet. Schreiben bot ihm Asyl vor der Übermacht des Vaters. Doch es war ihm auch bewusst, dass man an seinen Gegensatz gebunden ist und dass deshalb der Vater im Schreiben anwesend bleibt“. Dennoch wird der bekannte „Brief an den Vater“ eine Art Befreiungsschlag für Kafka werden. Genau dies bedeutet das Schreiben für Kafka nämlich in aller erster Linie: Freiheit. Und das Schreiben gelang oftmals einfach, es war „ein Geschehen, kein Machen“.

Kafka, die Frauen und seine Angst

Wie schwierig für Kafka der Schritt ins reale Leben war, zeigt auch seine Beziehung zu Frauen. Ob Felice Bauer, Julie Wohrzyk, Dora Diamant oder Milena Pollak: Von allen fühlte er sich einerseits angezogen, er verlobte sich oder schmiedete Hochzeitspläne, aber andererseits floh er regelrecht vor ihnen. Für alle galt, dass er, wie Kafka in seinen Tagebüchern verriet, versuchte, sie „mit der Schrift zu binden.“ Oftmals konnte er Nähe zu den Frauen nur durch Briefe herstellen, während reale Nähe ihn lähmte. Einzig Milena scheint seine notwendige Hingabe zum Schreiben zu akzeptieren, so dass zu ihr - selber Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin - eine literarische Beziehung möglich schien.

„Kafka blickt auf die Welt wie jemand, der noch nicht ganz zur Welt gekommen ist“, so Safranski. Er zögere, „weil er Angst hat. Und weil er zögert, wächst die Angst.“ Und Angst hat Kafka vor vielem: seinem Vater, den Ansprüchen, seiner gesellschaftlichen Stellung, der Einsamkeit und der Zeit. Aber Kafka weiß, dass diese Angst in „hellsichtig“ macht. „Er erfährt sich als jemand, den sein Lebensschicksal dazu verurteilt, schreibend in Gebiete vorzudringen, die denen verschlossen bleiben müssen, die in ihrer Wirklichkeit mit einigem Behagen zu Hause sind.“ Dadurch findet Kafka doch noch sein Lebensglück im Schreiben. Am Ende aber wird er feststellen: „Ich habe nicht gelebt, ich habe nur geschrieben.“

Fazit

Safranski verzichtet wohltuend auf eine umfassende Werkdeutung, auch wenn er auf die Schreibprozesse bei den bekanntesten Erzählungen, Fragmente und Romane Kafkas eingeht. Ab und an verfängt sich Safranski etwas in einem zu psychologisierenden Sprachgestus. Davon abgesehen gewinnen wir dank seiner Darstellung einen wunderbaren Blick auf den Menschen Kafka, für den das Leben einfach Schreiben bedeutet. Safranskis Annäherung an das Motiv des Schreibens im Leben Franz Kafkas ist wahrlich ein Gewinn.

Kafka: Um sein Leben schreiben

Rüdiger Safranski, Hanser

Kafka: Um sein Leben schreiben

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