Vielschichtige Charakterstudie des „Amerikanischen Prometheus.
Er galt als „Vater der Atombombe“: J. Robert Oppenheimer, berühmt-berüchtigter Physiker, leitete ab 1942 das streng geheime „Manhattan Project“ im Los Alamos National Laboratory in der Wüste von New Mexico, aus welchem der erste Nuklearsprengkopf der Welt (Codename: Trinity, erfolgreich getestet am 16. Juli 1945 um 05:29 Uhr) hervorging. Mit dem Abwurf der Bomben „Little Boy“ am 6. August 1945 auf die Stadt Hiroshima sowie „Fat Man“ am 9. August 1945 auf die Stadt Nagasaki in Japan wurde das Ende des Zweiten Weltkriegs eingeläutet.
Doch wer war der Mann hinter der Bombe? Eine widersprüchliche, unnahbare und doch einnehmende, so charismatische wie enigmatische Persönlichkeit, inspirierte Meisterregisseur Christopher Nolan 2023 zu seinem Blockbuster Oppenheimer, der zu einem der Kinohits des Jahres 2023 aufstieg und ganze 7 Oscars (darunter „Bester Film“) abräumen konnte. Das damit neu entfachte Interesse an „Oppie“ verleitete den Ullstein-Verlag zu einer Neuauflage des Werks, das als Vorlage für den Streifen diente: Die Oppenheimer-Biographie von Kai Bird und Martin J. Sherwin (versiert ins Deutsche übertragen von Klaus Binder und Bernd Leineweber).
„Prometheische Menschen unserer Tage haben den Olymp erneut überfallen und der Menschheit diesmal die Donnerkeile des Zeus mitgebracht“ – Scientific Weekly, 09/1945
Julius Robert Oppenheimer wurde 1904 als Sohn jüdischer Immigranten in New York City geboren. In seiner Kindheit war er wohlbehütet und bestens versorgt, zeigte in der Schule Bestnoten. Die Auswahl der Physik aus seinen zahlreichen Passionen und Interessen als diejenige, der er sein Leben widmen wollte, traf er erst während seiner Studien in Harvard, die er 1925 summa cum laude abschloss. Es folgten Stationen am Cavendish Laboratory, in Cambridge sowie in Göttingen (damals führend im Forschungsbereich der Atomphysik), wo bald sein sich stetig herausgebildetes Talent für die theoretische Physik entdeckt werden sollte.
Schließlich wurde ihm eine Assistenzprofessur an der Caltech in Pasadena sowie an der University of Berkeley in Kalifornien angeboten, zwischen denen er in der Folge semesterweise pendelte. 1941 heiratete er die Biologin und Botanikerin Katherine „Kitty“ Puening (fortan Oppenheimer), mit der er eine kleine Familie gründete.
Als in Regierungskreisen der USA die Sorge zu wachsen begann, dass Nazideutschland in Begriff sei, eine funktionstüchtige „Wasserstoffbombe“ herzustellen, wurde das „Manhattan Project“ zu dem Zweck ins Leben gerufen, die USA das Rennen gewinnen zu lassen, indem sie den Nazis zuvorkommen. Oppenheimer, zwischenzeitlich zum Starphysiker avanciert, übertrug man die Leitung. Das Projekt sollte schließlich von Erfolg gekrönt sein, und der Rest ist Geschichte.
Etwa 215.000 zivile Opfer starben an dem ersten (und bislang einzigen) kriegerischen Einsatz einer Atombombe und dessen Folgen. Oppenheimer war ob des Ergebnisses lebenslang zerrissen und setzte sich fortan für die Reglementierung der Atomenergie und gegen die Verwendung nuklearer Sprengkörper ein, was ihm trotz anfänglicher Ehrung seiner Leistungen schnell zum Störenfried für die US-Regierung machen sollte.
Dass er viel in intellektuellen Kreisen verkehrte, denen man Beziehungen zur Kommunistischen Partei nachweisen oder anhängen konnte, wurde ihm zum Verhängnis: Forciert durch Lewis Strauss, Leiter der Atomic Energy Commission, kurz AEC (deren Beratungskomitee Oppenheimer selbst 1947 als Vorsitzender beigetreten war), wurde ihm im Rahmen einer Anhörung im Jahr 1954 die Sicherheitsfreigabe entzogen, wodurch er jegliche politische Einflussnahme verlor, was (besonders unter Wissenschaftlern) Wellen schlug und hitzige Debatten entfachte. 1963 wurde er durch die Verleihung des hoch dotierten Enrico-Fermi-Preises durch Präsident Lyndon B. Johnson (auf Anraten seines Vorgängers John F. Kennedy) zumindest teilweise rehabilitiert. 1967 starb Robert Oppenheimer in Princeton an Kehlkopfkrebs. 2022 wurde der Entzug seiner Sicherheitsfreigabe von der US-Energieministerin posthum aufgehoben.
„Seit 1945 ist die Bombe in unserem Bewusstsein. Erst bestimmte sie unsere Verteidigung, dann unsere Diplomatie, nun ist sie Teil unserer Wirtschaft. Wie können wir davon ausgehen, dass etwas so Übermächtiges nach 40 Jahren nicht zu einem Teil unserer Identität geworden ist? Der große Golem, den wir gegen unsere Feinde geschaffen haben, ist unsere Kultur, unsere Bombenkultur – ihre Logik, ihr Glaube, ihre Vision“ – E. L. Doctorow in THE NATION, 03/1986
Soweit die Eckdaten eines bewegten Lebens, die jedoch kaum Aufschluss über die Persönlichkeit Oppenheimers und die Umbrüche des soziopolitischen Klimas während seines Lebens gibt. Dieser Aufgabe haben sich die Amerikaner Kai Bird, als Autor vor allem bekannt für seine Politikerbiografien, Darstellungen der Beziehungen zwischen den USA und dem Nahen Osten sowie seine Werke über Nagasaki und Hiroshima, und Martin J. Sherwin, zwischenzeitlich verstorbener Historiker, mit ihrer 2005 veröffentlichten Biografie (in Deutschland erstmals 2009 erschienen) gestellt. Sie führten dazu über Jahrzehnte hinweg Interviews mit Zeitzeugen, um ein umfassendes Porträt dieses Mannes zu skizzieren.
„Wir wussten, dass die Welt nicht mehr dieselbe sein würde. Manche lachten, manche weinten. Die meisten schwiegen. Da war dieser Vers aus der Bhagavad Gita, der heiligen Schrift der Hindus. Vishnu versucht den Fürsten zu überzeugen, seine Pflicht zu tun, und um ihm Eindruck zu machen, nimmt er ihn in seine vielen Arme und sagt: ‚Nun bin ich Tod geworden, Erschütterer der Welten.‘ “
Dies ist ihnen auf voller Linie gelungen: Die 580 Seiten (einschließlich Vorbemerkung und Nachwort) bewegen sich chronologisch durch Oppenheimers Leben, vermeiden aber den Fehler, eine trockene Geschichtsstunde zu werden. Die kontinuierlich in den Text eingewobenen Zitate von Oppenheimer selbst, seiner Familie, Freunden, Bekannten, Mitarbeitenden, Unterstützern und Gegnern vermitteln ein Gefühl für das Drama und die Intrigen, die sich hinter den Kulissen von Politik und Wissenschaft (bzw. an deren Schnittstellen) abspielen.
Dabei bleibt das Buch stets packend zu lesen und enthält erstaunlich wenig Längen. Nur den Überblick über die vielen namentlich genannten an Oppenheimers Leben und der wissenschaftlichen und politischen Umwälzungen, die in seinem Dunstkreis vor sich gehen, beteiligten Personen zu behalten, gestaltet sich schwierig; hier vermag jedoch ein ausführliches Register im Anhang Abhilfe zu schaffen. Ein beträchtlicher Teil von ihnen kommt zu Wort und erschafft so ein sehr komplexes und differenziertes Bild der Ära des Atomzeitalters – und natürlich von J. Robert Oppenheimer, der auch nach der Lektüre dieses Werks aufgrund seiner Vielschichtigkeit zwar schwer greifbar, aber ebenso faszinierend bleibt.
Fazit
So muss eine Biografie sein! Wer Oppenheimer im Kino feierte, wird hier vollends auf seine Kosten kommen. Doch auch alle anderen, die Interesse haben, werden Birds und Sherwins Werk als bereichernd empfinden. Schillernd wie ein Gesellschaftsroman, informativ wie ein wissenschaftlicher Essay, spannend wie ein Politthriller – und gleichzeitig intime Annäherung an ein außergewöhnliches Leben.

Martin J. Sherwin, Kai Bird, Ullstein
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