Hybris

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Michael Drewniok
8101

Sachbuch-Couch Rezension vonJun 2025

Wissen

Bedrückend überzeugende, weil kenntnisreich unterfütterte Chronik und ein Lehrstück darüber, wie man im Dienst einer guten Sache völlig versagen kann.

Ausstattung

Der Text allein muss wirken, aber das gelingt ihm definitiv!

Falsch“ ist nicht besser als „schlecht.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein politisch tief gespaltenes Land. Konservative Republikaner und liberale Demokraten teilen sich eher unwillig eine Heimat, dessen Zusammenhalt auf einen Schlingerkurs geraten ist. Die Parteien und ihre Anhänger stehen sich unversöhnlich gegenüber, wobei aktuell die Republikaner unter ihrem Präsidenten Donald Trump die Oberhand haben; so muss man einen Zustand bewerten, der die systematische Aushöhlung einer einstigen Demokratie kennzeichnet.

Der traurige Zustand ist aber nicht nur dem genannten Präsidenten anzulasten, der skrupellos gegen alles wütet, was seinem auf den lukrativen „Deal“ beschränkten Geist Einhalt gebieten will. Wie es (schon wieder) soweit kommen konnte, obwohl die US-Bürger gewarnt waren, ist das Thema dieses Buches. Die Journalisten Jake Tapper und Alex Thompson dokumentieren, wie ausgerechnet die US-Demokraten, die 2024 ausdrücklich mit dem Ziel angetreten waren, eine neuerliche Präsidentschaft Trumps zu verhindern, dem Irrwisch zurück in den Sattel halfen.

Dies geschah, weil sie alles daran setzten, die Wiederwahl eines Mannes zu ermöglichen, der dieser Aufgabe weder geistig noch körperlich gewachsen war. „Hybris“ ist über weite Strecken eine erschreckende Sammlung von Fakten und Fallbeispielen, die beweisen, dass Joe Biden zwar zum zweiten Mal US-Präsident werden wollte, jedoch seine Schwäche ignorierte. Schlimmer noch: Männer und Frauen, die ihn beraten sollten, schoben stattdessen einen Schutzwall auf, hinter dem Biden ahnungslos in dem Glauben blieb, der einzige Kandidat zu sein, der Trump schlagen konnte. In dieser Blase vertat er wertvolle Monate, in denen seine Partei für Ersatz hätte sorgen können. Als sich die brutale Wahrheit endlich nicht mehr schönreden ließ, war es zu spät: Die von den Demokraten rasch auf den Schild gehobene Vizepräsidentin Kamala Harris hatte in der kurzen Zeit vor der Wahl keine Chance, sich vor den US-Wählern zu profilieren. Trump gewann haushoch und setzte die Demontage der Demokratie nahtlos dort fort, wo er 2021 hatte stoppen müssen.

Blind & taub im Dienst der Sache

Tapper & Thompson füllen Seite um Seite mit einer frustrierenden, in ihrer deprimierenden Eintönigkeit beinahe langweilenden Aufzählung von Szenen, in denen Joe Biden buchstäblich seinen Verstand verlor. Er wusste um das Risiko, als ältester jemals gewählter US-Präsident 2021 sein Amt anzutreten, weshalb er versprach, ein „Übergangs-Kandidat“ zu bleiben und nach vier Jahren seinen Platz für einen jüngeren Nachfolger zu räumen.

Die Geschichte ist eine Fundgrube für Menschen, die in hohe Ämter kommen und die dort ausgeübte Macht nicht mehr missen wollen. In dieser Gier werden allzu oft evidente Einwände ignoriert. Joe Biden war nicht nur alt. Persönliche Schicksalsschläge forderten zusätzlich ihren Tribut und zehrten an seinen schwindenden Kräften. Biden verlor seine erste Gattin und eine Tochter durch einen Autounfall, der ältere Sohn starb an einer Krankheit, der zweite Sohn war (und ist) ein mehr oder weniger krimineller, haltloser und suchtkranker Unruhestifter, der seine Familie und vor allem seinem Präsidentenvater mehrfach schadete.

Spätestens im zweiten Amtsjahr begann Biden abzubauen. Zunächst waren es nur kurze Aussetzer, und manchmal stolperte über die eigenen Füße. Solche Zwischenfälle wurden vom Weißen Haus routiniert ‚erklärt‘ (schlecht geschlafen, erkältet, überarbeitet) oder vertuscht - dies auch deshalb, um die Regierungsmaschine der Demokraten am Laufen zu halten: Man fand außer Biden einfach keinen Kandidaten, der die Wähler für sich einnehmen konnte. Die innere Schwäche der Partei sollte unbedingt verborgen bleiben, um dem ‚Feind‘ - Donald Trump und die Republikaner - keine Angriffsfläche zu bieten.

Wer mimt den besseren Präsidenten?

Tapper & Thompson sind nicht nur Chronisten. Sie betten ihre Fakten in ein Informationsgefüge ein, das die Eigenheiten des US-Regierungsapparates erläutert. Spätestens seit John F. Kennedy gibt nicht das Programm, sondern das öffentliche Bild des zukünftigen Präsidenten den Ausschlag für einen Sieg an der Wahlurne. Die jeweiligen Stäbe bemühen sich, jeden Kandidaten als kerngesunden, intelligenten, dabei niemals intellektuell-hochmütigen, moralisch integren, volksnahen und auch sonst engelsgleichen Übermenschen darzustellen. Dabei gilt es nicht nur die Wähler und die Opposition, sondern auch die Medien zu blenden, denn diese definieren sich im 21. Jahrhundert über den Skandal, der Aufmerksamkeit und Auflagen garantiert.

In welchem desaströsen Ausmaß die Wahrheit inzwischen auf der Strecke bleibt, demonstriert Bidens ‚Wahlkampf‘, der 2024 jedoch nur krönte, was sich schon vor Jahren abgezeichnet hatte. Tapper & Thompson legen offen, wie ein zunehmend schwächelnder und geistig abirrender Biden durch die Machenschaften seiner ‚Berater‘ als weiterhin tatkräftiger Staatslenker aufgebaut wurde. Dies setzte man ohne Rücksicht auf die trotz intensiver ‚Betreuung‘ immer stärker durchschlagenden Aussetzer fort. Mit im Boot saßen um ihre Ämter fürchtende Politikergenossen, ‚Freunde‘ und Familienmitglieder, die den isolierten Noch-Präsidenten in seinem Wahn bestärkten. Niemand wollte ein ‚Verräter‘ sein und sich eine Zukunft nach Biden verbauen. (Dies spiegelt sich auch darin wider, dass die Mehrzahl derer, die von den Autoren befragt wurden, ihre Namen nicht veröffentlicht sehen wollten.)

Tapper & Thompson nennen Namen. Für nicht-US-amerikanische Leser enthüllen sie dabei das Geflecht politischer Interessengruppen, die vom jeweiligen Kandidaten ständig gebauchpinselt werden müssen, weil sie das Geld bereitstellen, das in den Wahlkampf gepumpt wird: Nicht Argumente, sondern eingehämmerte Schlagworte locken den Durchschnittsbürger zur Wahlurne. Prominenz aus Wirtschaft und Kultur (bzw. Hollywood: Tapper & Thompson zitieren immer wieder den demokratisch aktiven Schauspieler George Clooney) ersetzt in den USA jenen Hofstaat, der sich einst an den europäischen Königshöfen im Glanz des Monarchen sonnte und wichtig vorkam.

Chronik eines angekündigten Untergangs

Der Verfall kam nicht aus heiterem Himmel und war auch nicht ausschließlich dem Alter geschuldet. Tapper & Thompson greifen dort auf die Vergangenheit zurück, wo diese Hinweise auf das zentrale Thema enthält: die Monate, Wochen und schließlich Tage, die dem überfälligen Sieg der Vernunft = dem Verzicht Bidens auf seine Kandidatur vorausgingen. Vor allem die beiden letzten entscheidenden Wochen nehmen die Autoren detailliert unter die Lupe, schildern Tag für Tag, wie der dramatische Sturmlauf gegen eine undurchdringliche Wand immer mehr an Tempo zunahm, um schließlich in einem gewaltigen Mediensturm zu gipfeln.

Zurück blieb ein gewaltiger Kater, der an Tiefe noch zunahm, als die Demokraten ernteten, was sie gesät hatten: die drastische Niederlage ihres Notnagels Kamala Harris und den Sieg des verhassten und rachedurstigen Donald Trump. Tapper & Thompson sprechen aus, was die Verlierer weiterhin lieber verschweigen: Sie haben sich in diesem Wahlkampf keineswegs ehrlicher verhalten als Trump! Dieser lüge, sobald er den Mund öffne, wurde als Gegenargument genannt. Doch ist es ‚besser‘, wie Biden seine Privilegien zu nutzen, um Familienmitglieder und Freunde vor der Justiz zu schützen? Die Autoren klären darüber auf, dass sich Fehlverhalten nicht gegeneinander aufwiegen lässt: Mist ist Mist.

Tapper & Thompson beenden den Höllentrip durch den alltäglich gewordenen US-Wahnsinn mit einem Appell. Sie plädieren für eine grundlegende Änderung des Wahlrechts bzw. dessen Anpassung an eine Gegenwart, deren politischen und moralischen Veränderungen die Gründerväter vor zweieinhalb Jahrhunderten nicht vorausahnen konnten. Sie sind allerdings pessimistisch, da sich alle Beteiligten mit den Fehlern und Lücken des traditionellen Systems offensichtlich nicht nur abfinden, sondern sie trickreich ausnutzen. Dass es auf diese Weise ad absurdum geführt wird, scheint niemand zu kümmern: Der Sieg steht über allem, und wie man ihn erringt, ist zunehmend nebensächlich! Man beendet die Lektüre mit einem unguten Gefühl: Diese Geschichte hat kein gutes Ende gefunden, und sie wird uns auch in den nächsten Jahren beschäftigen.

Fazit

Chronologie eines Versagens, das eine hoffnungslose Präsidentenwahl in ein trauriges Lehrstück verwandelte; statt der Demokratie ihren Lauf zu lassen, erwies man ihr einen Bärendienst und hebelte sie aus - eine Darstellung, die moderne Zeitgeschichte in einen Thriller verwandelt und absurd, aber leider wahr ist!

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