Hauptstadt der Tiere

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Michael Drewniok
9101

Sachbuch-Couch Rezension vonFeb 2022

Wissen

Ausstattung

Begegnung unterschiedlichster Welten

Am 1. August 1844 öffnete der Zoologische Garten Berlin als erster seiner Art in Deutschland die Pforten. Er löste die bis dato üblichen Menagerien ab, in denen Fürsten und Könige exotische Tiere als Zeichen ihrer Macht ‚sammelten‘. Im Vordergrund sollte nunmehr der wissenschaftliche Gedanke stehen. Auch ‚das Volk‘ sollte die Gelegenheit bekommen, etwas über die (Tier-) Welt lernen, die nun quasi an einem Ort zu besichtigen waren.

175 Jahre später gehört der Zoologische Garten Berlin zu den größten Zoos der Welt. In die lange Zeit seines Bestehens fiel Erinnerungswürdiges bzw. -notwendiges, zumal die Anlage in der deutschen Hauptstadt lag, die selbst immer wieder im Zentrum oft dramatischer Ereignisse stand. Insofern stellte das Jubiläum 1999 nicht nur eine Nabelschau dar, sondern erinnerte auch an allgemeine politische und kulturelle Entwicklungen und Umbrüche.

Zoo- und Weltgeschichte werden in der hier vorgestellten Jubiläumsschrift folgerichtig miteinander verknüpft. Dies erfordert ein Konzept, das über die dröge Auflistung erstmals angeschaffter oder gezüchteter Tiere hinausgeht sowie gleichrangig die Menschen berücksichtigt, die als Zoo-Mitarbeiter bzw. -Besucher den (historisch bedingt sogar mehrfachen) Aufbau und den Erhalt möglich machten.

Panorama wechselnder Sichtweisen

Autor Clemens Maier-Wolthausen sorgt für den zeitgemäßen Blick auf eine Historie, die leicht zu einer anekdotenreichen, konfliktabstinenten Präsentation einst und jetzt in Berlin gehaltener Tiere hatte geraten können - dies auch deshalb, weil er auf ein prall mit Fotos u. a. Material gefülltes Archiv zurückgreifen konnte; „Hauptstadt der Tiere“ ist bemerkenswert reich illustriert, wobei die Wiedergabequalität auch alter Fotografien staunenswert hoch ist. Auf dickes, hochwertiges Papier gedruckt, lassen selbst kleine Abbildungen keine Details vermissen.

Dem Informationswust aus 175 Jahren hat sich Maier-Wolthausen beherzt gestellt. Ohne sich in Einzelheiten zu verlieren, orientiert er sich an zentralen Ereignissen, zu denen zwei Weltkriege, der Bau der Berliner Mauer und ihr Fall, die schwierige ‚Insellage‘ oder die Errichtung eines ‚Konkurrenz-Zoos‘ im „sozialistischen‘ Ost-Berlin gehören; den Tierpark Berlin-Friedrichsfelde (seit 1955) blendet der Autor nicht aus, sondern schildert eine quasi parallele Entwicklung, der Berlin im wiedervereinigten Deutschland die Existenz zweier zoologischer Gärten verdankt.

Vor unerfreulichen Kapiteln verschließt Maier-Wolthausen seine Augen nicht. Auch der moderne Zoo steht unter dem Gesichtspunkt eines Tierwohls, das Lebensfreiheit in den Vordergrund stellt, in der Kritik. Die Geschichte des Berliner Zoos macht jedoch deutlich, dass sich in mehr als anderthalb Jahrhunderten viel getan hat. Der Autor weist in Wort und Bild auf Zeiten hin, in denen Tiere einzeln und in engen Käfigen ‚gehalten‘ wurden, um dem Publikum möglichst viele Arten zu zeigen. Die daraus resultierenden Verhaltensschäden und eine enorme Todesrate galten als Betriebsrisiko. Da man die freie Natur als unerschöpfliche Quelle für lebenden Nachschub betrachtete, wurden die Lücken durch Nachfänge geschlossen, auch wenn oft die gesamte Herde abgeschossen wurde, um eines begehrten Jungtiers habhaft zu werden.

Der Zoo als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit

Einige besonders düstere Kapitel sind wie so oft ausschließend menschengemacht. Ausführlich geht Maier-Wolthausen auf die „Völkerschauen“ während Deutschlands Kolonialzeit vor dem Ersten Weltkrieg ein, als „wilde Eingeborene“ aus Afrika, Asien oder Südamerika sich im Zoo zur Schau stellen mussten: Die angeblich ‚lehrreichen‘ Schauen dienten zahlenden Gaffern als Freizeitvergnügen. In solchen Passagen wird deutlich, dass der Chronist auch Historiker ist.

Auch lange verschwiegene Verfehlungen im „Dritten Reich“ kommen zur Sprache. Der damalige Zoodirektor Lutz Heck war ein energischer Anhänger des Regimes, das er nicht nur propagandistisch unterstützte. Er war in ‚Rassenfragen‘ behilflich und ließ wissenschaftsfreien Worten böse Taten folgen. So wilderte man auch auf Hecks Rat nachgezüchtete Wisente dort in Osteuropa aus, wo „rassisch minderwertige“ Menschen lebten, die nunmehr - da störend - vertrieben oder sofort umgebracht wurden. ‚Daheim‘ wurde parallel dazu der Aufsichtsrat des Zoos rüde „judenfrei“ geräumt.

Ganz und gar kein Ruhmesblatt ist weiterhin der chauvinistisch unterfütterte Intrigen-Feldzug gegen Katharina Heinroth, die nach dem Zweiten Weltkrieg als erste Frau die Leitung des Zoos übernahm. Sie wurde 1956 aus ihrem Amt gedrängt. ‚Abgerundet‘ wird die kommentierte Auflistung solcher und ähnlicher Machenschaften durch den Blick auf die DDR-Phase, als die Stasi-Schlapphüte sich auch im Ost-Tierpark breitmachten und zwischen Affen und Rhinozerossen nach Staatsfeinden fahndeten, wobei ihnen so mancher Zoo-Mitarbeiter als IM zur Seite stand. Für böses Blut sorgte nach der Wiedervereinigung eine allzu ‚westlich‘ geprägte Privatisierung, bei der sich der Tierpark im ehemaligen Ostteil der Stadt nicht zu Unrecht übergangen fühlte.

Präsenter denn je

Seit jeher bedienten sich west- wie ostdeutsche Politiker sowie Besucher aus dem Ausland der Berliner Zoos. Wie auch Konzerne, Banken u. a. eher naturferne Einrichtungen gaben sie sich gern menschennah, wenn sie publikumswirksam Tiere stifteten und sich völkerverbindend mit ihnen fotografieren ließen. Der Autor sorgt aber dafür, dass die Tiere nicht ins Hintertreffen geraten. So wird jedes Kapitel mit dem Porträt einer der in Berlin gehaltenen Arten eingeleitet. Meier-Wolthausen geht außerdem auf besonders prominente Zoobewohner ein - den Elefanten Salim, den Flusspferdbullen Knautschke den die Berliner als einen der wenigen Überlebenden der Bombennächte als einen der ihren ins Herz schlossen, und natürlich Eisbär Knut.

Nachdem die Berliner zunächst fremdelten, wurde der Zoo rasch zu einem Publikumsmagneten. Gleichzeitig änderte sich der Anspruch: Aus einem ‚lebendem Museum‘ wurde mehr und mehr ein Ort, der den Menschen das Verständnis für die Bewahrung einer Tierwelt verdeutlich soll, die durch Umweltzerstörung und -verschmutzung immer stärker unter Druck gerät. Der Mensch muss sehen, was er schützen soll. Dass dieser Ansatz greift, verdeutlicht auch die Geschichte: Immer wieder brachten (nicht nur) die Berliner in Notzeiten große Opfer für ‚ihren‘ Zoo.

Eine Lesbarkeit, die neben der inhaltlichen Stringenz die interessante Anekdote nicht zu kurz kommen lässt, wird durch die schon erwähnte Hochwertigkeit der Abbildungen ergänzt. Überhaupt ist der Band klar, aber großzügig layoutet. Aus einer Festschrift wird ein Lesebuch; es feiert nicht wie so oft jene, die sich bei großen Jubiläen ins Scheinwerferlicht drängen, sondern stellt die „Hauptstadt der Tiere“ als Ort dar, den Tiere und Menschen gleichermaßen prägen.

Fazit

Ausgezeichnete, nicht nur inhaltsreiche, sondern auch gut geschriebene und vorzüglich illustrierte Darstellung einer Zoogeschichte, die immer auch Teil der lokalen Stadthistorie war: Die Verschränkung gelingt, der Zoo wird als elementarer Teil des Stadtbilds verständlich.

 

Hauptstadt der Tiere

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