Hase und ich

Hase und ich
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Michael Drewniok
9101

Sachbuch-Couch Rezension vonJun 2025

Wissen

Ihre Geschichte ergänzt die Autorin mit vielen Fakten über Hasen und vor allem über die lange, gemeinsame Geschichte von Mensch und Hase

Ausstattung

Die Kapitel werden durch hübsche Zeichnungen von Hase/n eingeleitet. Außerdem gibt es eine Karte von Hases Haus und Lebensraum.

Langohr-Lektionen über das Leben.

Die Corona-Pandemie hat sich lähmend über die Welt gelegt. In England leidet Chloe Dalton, bisher viel beschäftigte Beraterin mehr oder weniger prominenter Politiker, unter dem plötzlichen Stillstand, zumal sie sich in ihr abgelegen auf dem Land liegendes Haus zurückgezogen hat. Dort ist die Untätigkeit noch deutlicher spürbar.

Eines Tages stößt Dalton während eines Spaziergangs auf einen jungen Hasen, der offensichtlich seine Mutter verloren hat. Obwohl ihr vage bekannt ist, dass diese Tierart sich nicht zähmen lässt und in Gefangenschaft meist stirbt, nimmt sie den Hasen mit nach Haus.

Es schließt sich eine hektische Phase schwieriger Informationsbeschaffung an. Um den Hasen hat sich die Forschung eher stiefmütterlich gekümmert. Man jagt und isst ihn, aber sein Leben kennt man nur in Ausschnitten. Während Dalton sich sorgt, lässt sich der kleine Hase mit Katzenmilch füttern, wächst wie der Pilz im Walde und legt höchstens Vorsicht, aber weder Scheu noch Angst gegenüber seiner Ersatzmutter an den Tag.

Der (namenlos bleibende) Hase stellt Daltons Leben auf den Kopf. Sie stellt ihre Werte und Ansprüche auf den Prüfstand und spürt, dass sie dem Hasen eine neue Weltsicht verdankt. Dalton beschäftigt sich mit der Natur und den Problemen, mit denen Pflanzen und Wildtiere in einer agrarisch allzu intensiv genutzten Welt kämpfen. Sie ändert ihren Lebensstil, in dem Hase weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Das Tier ist völlig frei, besucht sie aber regelmäßig, bringt sogar ihre Jungen - Hase ist ein Weibchen - im Haus ihrer ‚Mutter‘ zur Welt - und wird allmählich berühmt ...

Sieg der vorsichtigen Gelassenheit

In der Regel geht es schlimm aus, wenn bisher auf ihre Karriere konzentrierte Zeitgenossen die ‚richtige‘ Welt entdecken. Meist ist eine persönliche Krise wie eine Krankheit der Auslöser, um bisher in Geld und Ruhm umgerubelte Energie in neue Richtungen zu lenken. Dann ist der Umschwung absolut: Was früher von elementarer Bedeutung war, wird nun betont in Frage gestellt. Hinzu kommen epiphanische Geistesblitze aus meist dünnen Wolken, um solche Weisheiten auf eine alternativ-rationale Basis zu stellen: Das Publikum soll an ihnen teilhaben und auf des Verkünders Linie einschwenken.

Glücklicherweise fühlt sich Chloe Dalton in dieser Hinsicht nicht berufen. Zwar gibt auch sie ökologische Hintergrundinfos und Wasserstandsmeldungen bezüglich ihrer im Wandel befindlichen Befindlichkeit, doch es fehlt der messianische Unterton, der solche Äußerungen konterkariert. Dalton hatte ihr Aha-Erlebnis, das sich körperlich manifestierte und in ihrem Heim niederließ. Dies schildert sie jedoch gleichzeitig sachlich und andererseits gefühlvoll, was keinen Widerspruch darstellt, wenn man gewillt und fähig ist, sich nicht im emotionalen Dusel zu verlieren.

Subjekt und Auslöser dieser Geschichte ist ein Hase. Dies könnte die Mehrheit der Leser abwinken lassen. Hasen sind langohrige Grasfresser, die man in der Ferne über die Felder hoppeln sieht. Sie schmecken gut, und da sie sehr schnell laufen können, macht es ‚Spaß‘, sie zu hetzen und abzuschießen. Für besonders schlau hält man den Hasen nicht. Im Gegensatz zum Kaninchen ist er außerdem nicht ‚niedlich‘, sondern groß und hager; ein Einzelgänger, der den Menschen meidet.

Überraschungen beim Kennenlernen

Dieser Hase wird dank der genauen Beobachtung und detaillierter Beschreibungen der Autorin zu einer Persönlichkeit: Im Alleingang straft Hase einen Großteil des ohnehin raren Wissens über Seinesgleichen Lügen. Er (bzw. sie, wie sich erst später herausstellt) benimmt sich einfach nicht lehrbuchmäßig. Hase führt ein freies Leben in der englischen Natur, gedenkt aber nicht, auf die Gesellschaft ihrer Pflegemutter zu verzichten und nimmt gern die Annehmlichkeiten eines trockenen, warmen, sicheren Hauses in Anspruch.

So tritt Hase aus der Anonymität ihrer Artgenossen heraus. Wir lernen sie und ihre zwar vorsichtige, aber keineswegs von ständiger Angst geprägte Lebensweise kennen. Fühlt sich Hase sicher, schläft sie ausgiebig oder sonnt sich. Auch gegen Leckerbissen hat sie nichts einzuwenden. Ihr persönlicher Freiraum lässt Hase gelassen reagieren. Sie ist neugierig, freundlich und sogar gesellig, wenn man ihr nicht auf den Pelz rückt.

Dalton nimmt die Gelegenheit wahr. Sie schätzt die unabhängige Zutraulichkeit des Hasen und wird neugierig. Hase öffnet ihr den Weg in eine bisher nur oberflächlich bekannte Welt. Obwohl Dalton im Grünen wohnt, war sie nur selten und nicht wirklich daheim, sondern hetzte von einem Termin zum nächsten - ein Adrenalin-Junkie und süchtig nach dem Stress, den ihr Beraterposten mit sich brachte, der sie durch die ganze Welt reisen bzw. rasen ließ. Hase wurde in der erzwungenen Pandemie-Pause zu einem Anker.

Eine Lehre für die Welt?

Dalton ist beruflich ihrem Metier zwar treu geblieben, aber sie hat ihre Prioritäten verlagert. Die früher übersehene Natur liegt ihr inzwischen am Herzen. Vor allem das letzte Kapitel ihres Buches ist ein Aufruf zum Wandel. Mensch und Wildtier können durchaus miteinander leben. Die auf Ertrag bzw. Profit ausgerichtete ‚Nutzung‘ von Erde, Wasser und Luft muss in bestimmten Bereichen zurückgefahren werden. Ein Umdenken hat begonnen, aber der Weg ist noch weit, bis die Mehrheit aller Jungtiere nicht mehr von Autos, Traktoren und Mähdreschern umgebracht werden.

Hases Geschichte könnte ein Baustein dieses Prozesses sein. Dalton hat mit ihrem Buch einen Nerv getroffen und einen Bestseller verfasst. Zweifel an einem allzu ‚künstlich‘ gewordenen und umweltschädlichen Dasein liegen im Trend. Da Dalton wie schon erwähnt den Zeigefinger gesenkt hält, berührt sie auch jene, die mit oft fanatisiertem Naturschutz nichts am Hut haben. Zudem ist Hase ein idealer Sympathieträger - nie aufdringlich und alles andere als der sprichwörtliche „Angsthase“.

Im Internet lässt sich verfolgen, wie „Hase und ich“ eingeschlagen ist. Dalton hat ihre Mitbewohnerin (und deren Nachwuchs) in Foto und Video festgehalten, sodass im Bild deutlich wird, dass die Autorin nicht übertrieben oder Hase vermenschlicht hat: Man sieht ein Tier, das in sich ruht. Dalton gibt viele Interviews, seit ihr Buch erschienen ist. Sie liest aus ihrem Werk (und beantwortet geduldig die eine immer wiederkehrende Frage: Ja, Hase ist immer noch regelmäßiger Gast in Haus und Garten). Die ökologischen Probleme der Gegenwart dürften ungelöst bleiben. Aber es bleibt die Hoffnung, der Daltons Buch eine zusätzliche Basis verschafft: Es gibt nicht nur schlechte Nachrichten und Neuigkeiten. Manchmal strafen Geschichten wie „Hase und ich“ die Unbarmherzigkeit der Realität angenehm Lügen.

Fazit

Gelungene, weil nicht nur gut geschriebene, sondern auch predigtfreie Schilderung einer ungewöhnlichen Beziehung; vielleicht nicht ‚wichtig‘, aber interessant und herzerwärmend sowie darauf hinweisend, dass der Weg aus einer Lebenskrise auch über einen Hasen führen kann.

Hase und ich

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