Einführende Verführung - der erste Satz als Siegel eines Pakts zwischen Text und Leser*innen.
Ein erster gelesener Satz in der Literatur wird nur zu diesem, wenn ihm weitere folgen.
Erst, wenn ein Buch, ein Text weitergelesen wird, bekommt der Satz Einstiegscharakter.
Der erste Satz ist das lockende Angebot, das, wird es angenommen, den Ausgangspunkt einer Lektüre darstellt. Er bildet die Grundlage des Erzählens, die Voraussetzung von Fiktion, deren Techniken in ihm „wie in einer Nussschale angelegt sind“. Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt konzipiert zur Untermauerung dieser These seinen Essay „Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten“ als eine systematische Betrachtung ihres Auftretens.
„Der erste Satz „ist die schöne Lüge, die Literatur bedeutet, in kürzester Form.“
Der literarische Anfang stellt Schreibende vor die Aufgabe scheinbar aus dem Nichts etwas zu schaffen. Jeder Schreibende löst diese Aufgabe individuell, alle Schreibende vereint jedoch die Angst vor dem Scheitern. Denn nur, wenn der Erzählbeginn gelingt, wird die Lektürelust am Text geweckt, das Werk durch den Akt des Lesens wirksam und verharrt nicht nur in materieller Existenz.
Auch die generelle Ausgangssituation der Autor*innen deckt sich. Sie alle beginnen mit dem Schreiben eines Romans oder einer Erzählung nie an einem Punkt Null, sondern bewegen sich zwangsläufig bewusst oder auch unbewusst in einem Konglomerat von Lektürebegegnungen. Sei es in gelesener oder geschriebener Form, durch eigene oder fremde Texte. Keiner von ihnen sitzt vor einer tabula rasa, die ursprungslos gefüllt werden kann. Erste Sätze suggerieren lediglich durch die weite Bandbreite von Wirkungsabsicht und Variationsfreude, mit den Werkzeugen, die ihnen die Literatur an die Hand gibt, einen Neubeginn.
Erscheinungstypen erster Sätze
Erzähltheoretisch lassen sich erste Sätze klar umreißen. Sie stehen am Anfang eines Romans oder einer Erzählung und sind von einem fiktiven Erzähler formuliert, der nicht mit dem Autor identisch ist. Als erster Satz eines Textes kann die beginnende Wortfolge bis zum ersten Schlusspunkt betrachtet werden. Dabei nicht relevant ist die Gesamtlänge eines Textes, das Genre oder die Konstruktion des weiteren Handlungsverlaufs. Dagegen bekommt die historische Dimension bei der Betrachtung erster Sätze durchaus Bedeutung. Literaturgeschichtlich ist ihre Formulierung von zeitgenössischen Moden und Entwicklungen beeinflusst. Insofern spielt etwa das vorherrschende poetische Selbstbewusstsein zum Zeitpunkt der Niederschrift eine Rolle, da sich die Autor*innen epochal im Spannungsfeld von Rechtfertigungsdruck und literarischer Souveränität bewegen.
Grundmuster und Beispielfülle
Ihre Position hebt erste Sätze von den nachfolgenden hervor und rückt sie automatisch ins Blickfeld der Lesenden. Doch die ihnen von den Verfasser*innen aufwandsfrei zugeordnete Aufmerksamkeit, erwartet als Gegenleistung eine positive Auswirkung auf den vorgelegten Gesamttext. Erste Sätze sollen ihre Rezepient*innen in die sich anschließende Geschichte verstricken. Wie ihnen das gelingt, wie sie sich als Typen unterscheiden, Traditionen folgen oder wandeln, immer auch in Bezug zur Narration, darauf versucht die Studie Antworten zu geben.
Peter-André Alts Essay ist in fünfzehn Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel liest sich als Einführung in die Thematik. Alt erläutert näher die Überlegungen zu Anfangssätzen, die dem Schreiben seiner wissenschaftlichen Darstellung vorausgegangen sind und gibt Auskunft über Vorgehensweise sowie Intention. Das Betrachtungsobjekt „erster Satz“ wird klar definiert, um dann in den folgenden Kapiteln in vierzehn auftretenden Grundmustern vorgestellt zu werden.
Alt entwickelt eine Bandbreite von Satztypen, die sich über Informationsvermittlung, Spannungs- und Stimmungsaufbau bis hin zur Selbstreflexion erstreckt. Seine chronologisch aufgebaute Erörterung wird dabei en passant zu einem Parforce-Ritt durch die Epochen fiktiver Literatur. Zum Beleg und Verständnis seiner Klassifikation zitiert Peter André Alt zudem aus 249 Werken der Weltliteratur. Das Konvolut an Textstellen unterschiedlichster Verfasser*innen reicht quer durch alle Gattungen von Ovids Metamorphosen über Goethes Faust bis zu Die 131/2 Leben des Kapitäns Blaubär von Walter Moers. Mary Shelleys Frankenstein wird herangezogen, ebenso wie Musils Mann ohne Eigenschaften oder Lari Fari Mogelzahn von Janosch.
Literaturwissenschaftliche Annäherung
Dem literaturwissenschaftlichen Duktus des Essays verleiht die pointiert gesetzte Auswahl der Zitate eine kurzweilige Note, die den Zugang zum Text erleichtert. Die fachspezifische Erörterung geht weit über eine populärwissenschaftliche Darstellung hinaus und liest sich über Passagen mehr als Fach-, denn als Sachbuch. Alt gelingt es jedoch seine Ausführungen gut verständlich zu vermitteln. Bei einer gewissen Bereitschaft, sich auf deren Komplexität einzulassen, bleiben sie stets nachvollziehbar und liefern einen überaus spannenden Blick auf die Hintergründe, Zusammenhänge und Wirkungsweisen eines Details fiktionaler Literatur. Hilfreich sind hier auch die Anmerkungen und das Register der zitierten Romane und Erzählungen im Anhang.
In die weitgehend objektive, mit Beweisführung arbeitende Darlegung, mischt sich an manchen Stellen Peter-André Alts persönliche Autor*inneneinschätzung. So zieht er Eingangssätze von Erzählungen Hermann Hesses als misslungene Beispiele für Expositionen heran, die den Eindruck von Natürlichkeit erwecken möchten, letztlich jedoch trivial nur eine Einfachheit vortäuschen und in der Begrifflichkeit Theodor W. Adornos im ästhetischen Kitsch verharren. Franz Kafka dagegen wird wohlwollend begegnet. Das beginnt mit dem Buchcover, auf dem ein Anfangszitat aus dem Manuskript des Romans Der Process abgebildet ist, setzt sich im Textverlauf und Alt lässt Kafka auch sein Essay beenden. Im letzten Kapitel beleuchtet er die Formulierung und Bedeutung erster Sätze für Beginn und Ende der erzählten Geschichte. Zuweilen fallen diese auch zusammen. Dann kulminiert alles in einem einzigen Satz wie bei Kafkas Erzählung Wunsch, Indianer zu werden und übrig bleibt die „absolute Poesie als Extrakt reinster Form.“
Fazit
Der Essay thematisiert informativ, fundiert und klug die Bedeutung und Funktion erster Sätze als Aspekt fiktionaler Literatur. Die anschauliche Vorgehensweise wird dabei gleichzeitig zu einer Einladung zum wissenschaftlichen Diskurs. Beim zukünftigen Lesen des Beginns eines Romans oder einer Erzählung können Alts Ausführungen mit der persönlichen Wahrnehmung abgeglichen werden.

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