Die Weltmeister von Bern

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Thomas Gisbertz
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Sachbuch-Couch Rezension vonJun 2024

Wissen

Das Buch überzeugt mit der informativen Verknüpfung von Fakten, Stimmen der Beteiligten und Wertungen des Autors.

Ausstattung

Neben einer umfangreichen Bibliografie, die sich zur individuellen Recherche anbietet, verfügt das Buch im Mittelteil über zahlreiche Fotografien.

Weit mehr als nur ein weiteres Fußballbuch!

„Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Toooor!“ Jeder Fußball-Fan kennt diese Sätze, die bis heute nachhallen und sicherlich niemals in Vergessenheit geraten werden. Nicht nur, weil sie ganz eng mit dem WM-Triumph der Deutschen Fußballnationalmannschaft 1954 verbunden sind, sondern weil viele im „Wunder von Bern“ die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik sehen.

Anders als so manches Sachbuch zu diesem Thema geht es Autor Tobias Escher aber nicht nur darum, die Ereignisse rund um die WM in der Schweiz in den Mittelpunkt zu rücken. Vielmehr erzählt er 70 Jahre danach die Geschichte hinter dem Triumph. Dabei stellt er die Lebensläufe der Brüder Fritz und Ottmar Walter, des Siegtorschützen Helmut Rahn und des Trainers Sepp Herberger besonders in den Fokus.  Was waren das für Spieler, die aus einem zerstörten Land ohne Profi-Liga kamen, nicht nur körperlich unter den Folgen des Krieges litten und die als unschlagbar geltenden Ungarn besiegten? Wie schaffte es Trainerfuchs Herberger aus Amateurfußballern eine Weltmeistermannschaft zu formen?

„Das Wunder von Bern“ schildert auch das Leben nach dem Erfolg, das nicht selten wenig glamourös war, manchmal sogar in Alkoholismus, Selbstmordversuch und finanziellen Ruin führte. Darüber hinaus geht Tobias Escher auch der Frage nach den Dopingvorwürfen nach, die bis heute immer wieder gestellt wird. Vor allem aber rückt er nicht die berühmten Fußballer, sondern die Menschen in den Mittelpunkt, die eigentlich keine Helden sein wollten und doch lernen mussten, damit zu leben.

Fußballfachmann

Autor Tobias Escher ist Mitbegründer des Taktikblogs „Spielverlagerung.de“, das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. In der Internetsendung „Bohndesliga“ analysiert er zudem die Spiele der Bundesliga. Als freier Journalist schreibt Escher für die „WELT“ sowie für das Fußball-Magazin „11 Freunde“. Das Medium-Magazin wählte Escher 2013 unter die besten zehn Sportjournalisten. Bei Rowohlt erschienen zuletzt seine Bücher „Der Schlüssel zum Spiel: Wie moderner Fußball funktioniert“ und „Was Teams erfolgreich macht“. Bereits 2015 kam er im Rahmen der Recherche zu seinem Buch „Vom Libero zur Doppelsechs“ auf die Idee, über den WM-Triumph von 1954 zu schreiben. Konkret sollte es später um eine Biografie Fritz Walters gehen. Zum Glück kam es jedoch anders. So kommt der Fußballnostalgiker in den Genuss gleich mehrerer Kurzbiografien der damaligen Protagonisten. Deren Lebensläufe werden von Tobias Escher dank einer genauen Recherche nicht nur mit Leben gefüllt, sondern aufgrund seines schriftstellerischen Talents sowie seines Sprachgefühls zu einer unvergesslichen Zeitreise, die nicht nur aufgrund des „Wunder von Bern“ berührt und bewegt.

Menschen statt Helden

Das wirklich Interessante an diesem Buch, das sich in drei Teilen mit der Zeit vor, während und nach der WM beschäftigt, ist nicht die Schilderung der drei Wochen in der Schweiz während des Turniers. Vielmehr wirft die Schilderung der Kindheit, über die Kriegszeit bis in die frühen 50er-Jahre sowie der Darstellung des Lebens nach dem großen Finale ein besonderes, für viele vielleicht bisher unbekanntes Licht vor allem auf die Walter-Brüder und den „Boss“ Helmut Rahn.

Escher gelingt es, diese ebenso als herausragende Fußballer wie alltägliche Menschen darzustellen, die trotz ihres fußballerischen Könnens vollkommen unverhofft und plötzlich zu Volkshelden und damit zu Personen des öffentlichen Interesses werden. Eine Last, die nicht alle schultern können. Männer, die vom Krieg geprägt wurden und von Klein auf gelernt hatten, Autoritäten zu folgen und nicht nur auf dem Fußballplatz das umzusetzen, was verlangt wird (auch wenn Helmut Rahn seinen ganz eigenen Kopf hatte), sollen nun „ohne Anleitung“ mit dem Ruhm leben können. Dies gilt insbesondere für Helmut Rahn, der eigentlich nur Fußballspielen wollte, und Walter Kohlmeyer, einen der fünf Kaiserslauterer WM-Teilnehmer, die zunehmend dem Alkohol verfallen. Während es dem „Boss“ irgendwie immer wieder auch dank der Unterstützung Herbergers gelingt, sein Leben in den Griff zu bekommen, scheitert Kohlmeyer später am Umgang mit seinem Ruhm und verstirbt viel zu früh - wie es nur vier „Helden von Bern“ vergönnt ist, älter als 70 Jahre zu werden. Grund hierfür war laut Escher auch die Gelbsucht, an der fast sämtliche Spieler litten - vermeintlich hervorgerufen durch Spritzen, die sie während des WM-Finales bekamen und die die Dopingvorwürfe hervorriefen. Das Leben meinte es nicht immer gut mit der Jahrhundertelf.

Durch Distanz zu Nähe

Das Buch ist unglaublich gut recherchiert und liefert neben viel Wissenswertem aus den Karrieren der Spieler (u.a. auch über Abwerbungsversuche ausländischer Vereine) vor allem sehr private Einblicke ins Leben und den Alltag der Fußballer sowie ihres Trainers Sepp Herberger. Es lohnt sich darüber hinaus, den zahlreichen Fußnoten Aufmerksamkeit zu schenken - weil sie auch dank Eschers feinen Sinn für Humor mehr als lesenswert sind. Der Autor verliert sich zum Glück bei seiner Darstellung nie in eine Lobhudelei oder gar Glorifizierung der Protagonisten. Er wahrt bei aller Nähe als Fußballfan die notwendige Distanz und ermöglicht so einen differenzierten Blick auf die Menschen hinter der Geschichte und deren Leben. Dass sich dies allemal lohnt, zeigt er mit seinem aktuell erschienen Sachbuch.

Fazit

„Das Wunder von Bern“ verliert auch 70 Jahre danach nicht an Faszination. Dass Tobias Eschers Buch nicht eines von vielen wird, ist seiner genauen, empathischen Darstellung der Fußballer und ihres Lebens, aber auch seines stets kritischen Geistes zu verdanken. Ein mehr als lesenswertes Buch - nicht nur für Fußballfans.

Die Weltmeister von Bern

Tobias Escher, Rowohlt

Die Weltmeister von Bern

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