Die Welt ist laut

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Sachbuch-Couch Rezension vonAug 2023

Wissen

Ein sehr unterhaltsames und abwechslungsreiches Sachbuch mit lebendigen Beschreibungen.

Ausstattung

Mit zahlreichen QR-Codes zu Klangbeispielen und YouTube-Videos, die sehr viel hör- und sichtbar machen.

Kulturgeschichte für die Ohren

„War die Vergangenheit eine stille Idylle, oder ist das nur unsere verklärte Sicht der Dinge? ... Früher war es nicht unbedingt leiser. Der Lärm war nur anders.“

Der Radiojournalist, Historiker und Schlagzeuger Kai-Ove Kessler nimmt uns mit auf eine spannende und vergnügliche Zeitreise durch die „Geschichte des Lärms“. Um die im Buch beschriebenen Geräusche „anschaulich“ zu machen, gibt es QR-Codes, mit denen die Leser sich die Soundbeispiele online anhören können. Die Welt ist laut liest sich auch durch die vielen Zitate aus historischen Quellen sehr unterhaltsam. Bereits in der Antike beschwerten sich Lärmgeplagte über nervige Geräuschkulissen. Das zieht sich durch sämtliche folgende Jahrhunderte. Unter den Beschwerdeführern finden sich viele berühmte Intellektuelle, die sich von Geräuschen bei der Geistesarbeit gestört fühlten.

„Die Welt ist laut“: Von Naturgeräuschen zu menschengemachtem Lärm

„Die Welt ist laut“ beginnt mit dem Urknall. Wie klang der Urknall? Welche Geräusche gab es auf der Erde, als es noch keine Menschen gab? Natürlich sind die akustischen Szenarien, die Kessler dazu entwirft, spekulativ, denn Tonaufzeichnungen sind eine recht junge Erfindung.  Aber aufgrund von Fakten lassen sich historische Klangwelten rekonstruieren.

Zuerst gibt es nur Naturgeräusche wie Blätterrascheln, Donner und Tierlaute. Mit dem Erscheinen des Menschen beginnt die eigentliche Geschichte des Lärms, denn der Mensch produziert eine Vielfalt von immer neuen Geräuschen. Jede Epoche entwickelt mit neuen technischen Erfindungen auch neue Geräusche, zum Beispiel das Klappern der Mühlen, das Klirren der Schmieden und der Schrecken erzeugende Lärm der Kriege mit Explosionen von Schießpulver, Kanonenkugeln und Kriegsgeschrei.

„Die Welt ist laut“: Früher war es auch nicht besser

Wo viele Menschen zusammenkommen, wird es laut. Schon aus der Antike gibt es Zeugnisse darüber, wie sehr die Geräusche der Mitmenschen nerven. Seneca beklagt sich über den unablässigen Lärm von Sporttreibenden, Masseuren, Ausrufern von Warenverkäufern, die ihm seinen Urlaub im Badeort Baiae vermiesen: „Du bist aus Eisen oder taub, wenn unter so buntem und misstönendem Geschrei je deine Gedanken in Ordnung bleiben.“

Es gibt lange keine Trennung von Wohn- und Arbeitsbereichen in den Städten, so dass der Lärm durch Handwerker, Verkäufer und Nachbarn sieben Tage die Woche, 24 Stunden stattfindet. „Die orale Kultur erlebte eine Blüte in der Stadt des Mittelalters. … Schreien war üblich, nur so wurde der Einzelne hörbar …“,

Mit der Industrialisierung und seinen Erfindungen wie (Dampf)Eisenbahnen, Autos, Radio und Werksmaschinen erreicht der Lärm seinen Höhepunkt. Dank künstlicher Beleuchtung kann Tag und Nacht gearbeitet und gefeiert werden – die Nerven vieler Zeitgenossen liegen blank. Erste Anti-Lärm-Bewegungen formieren sich, 1908 werden die ersten Ohropax verkauft, auch Franz Kafka wird ein treuer Kunde der Ohrenschützer.   

Ruhe und Stille wird zum Luxus, den sich allerdings nur Bürgertum und die Oberschicht leisten können, wenn sie vor dem Lärm aufs Land fliehen oder sich in ruhige Gemächer zurückziehen. Die Unterklasse, das Proletariat, ist dem Lärm ungeschützt ausgeliefert, in den Fabriken und zuhause. Mitleid erfahren sie nicht, im Gegenteil. Sie gelten als schmutzig, ungebildet und laut: „in seinem (Schopenhauers) 1851 veröffentlichten Text ‚Über Lerm und Geräusch‘ beklagte er sich über die Arbeiterschaft. … Die tumberen Menschen und Nicht-Intellektuellen seien abgehärtet gegen Lautstärke.“

„Die Welt ist laut“: Lärmkritik und Lärmschutz kommen erst spät

Lange wird Lärmkritik mit Fortschrittskritik gleichgesetzt. Erst im 20. Jahrhundert wird Lärm von der Wissenschaft als Thema entdeckt und erforscht. Ende der 20er wird mit Dezibel ein internationaler Standard geschaffen und es sind vergleichbare Messungen möglich. Jetzt wird Lärm auch als gesundheitsgefährdend erkannt und Schutzmaßnahmen getroffen. Kai-Ove Kessler sieht den geschichtlichen Lärmhöhepunkt überschritten, neue Technik wird leiser.

Kessler beendet „Die Welt ist laut“ mit einem Exkurs in die Tier- und Pflanzenwelt, deren akustische Welt erst jetzt erforscht und entdeckt wird. Die angeblich stummen Fische geben reichlich Geräusche von sich und auch Tiere und Pflanzen leiden unter Lärm. Ein letzter Exkurs beschäftigt sich mit der -Frage welche Schäden Lärm genau bewirkt, z. B. bei der Entstehung von Diabetes und Krebs.

Wie immer, liegt es in den Ohren des Zuhörers…

Natürlich bleibt bei dem riesigen Zeitraum, und den vielen Sachgebieten wie Politik, Physik, Soziologie, Biologie, Archäologie, Medizin … die das Buch behandelt, kein Platz, um in die Tiefen zu gehen. Aber dafür ist es ein sehr unterhaltsames und abwechslungsreiches Sachbuch geworden. Dank seiner lebendigen Beschreibungen gewinnt man beim Lesen ganz neue Sicht- oder besser Hörweisen auf vergangene Zeitalter und entzaubert so manche romantische Vorstellung von früheren Zeiten. Die zahlreichen QR-Codes die Klangbeispiele bieten und zu YouTube-Videos führen, sind eine clevere und sehr unterhaltsame Idee, die das Buch und sein Thema unmittelbar erlebbar machen.

In „Die Welt ist laut“ macht Kessler deutlich, dass Geräusche und Lärm nicht eindeutig zu definieren und zu unterscheiden sind. Lärm ist eine subjektive Empfindung und nicht immer von der Lautstärke abhängig. Kai-Ove Kessler hat das selbst erfahren: Lautes Schlagzeug spielen ist für ihn Musik, sein für andere unhörbarer Tinnitus ist nervenraubender Lärm.

Fazit

„Die Welt ist laut“ ist ein unterhaltsames, vielseitiges und lebendiges Sachbuch, das bisher unbekannte Sicht- bzw. Hörweisen – mit Hilfe zahlreicher QR-Codes – längst vergangener Zeitalter enthüllt.

Die Welt ist laut

Kai-Ove Kessler, Rowohlt

Die Welt ist laut

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