Deutsche Filmgeschichten

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Yannic Niehr
6101

Sachbuch-Couch Rezension vonOkt 2023

Wissen

Filmwissenschaftliches oder geschichtliches Grundlagenwissen wird nicht vermittelt, sondern vorausgesetzt. Lobenswert ist jedoch die inhaltliche Vielfalt der Essays, die Freude an der akademischen Beschäftigung mit Filmen als historischem Medium machen.

Ausstattung

Die Essays sind knackig, aber unterhaltsam und spannend zu lesen. Der Anhang ist jedoch auf das Nötigste beschränkt, und leider fehlt auch Bildmaterial komplett.

Was Film alles sein kann

Globalisierungsprozesse machen auch vor dem Medium Film keinen Halt: Heute sind es vor allem amerikanische Produktionen, welche international die filmische Ästhetik als auch die Sehgewohnheiten beeinflussen. Durch den Vormarsch der Streamingdienste hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Doch einst hat es auch in der heimischen Kinolandschaft nennenswerte künstlerische Zäsuren und Entwicklungen gegeben: Der Deutsche Expressionismus, das Oberhausener Manifest, der Neue Deutsche Film – dies sind nur wenige der Schlagworte, welche die Geschichte des Films nicht nur in Deutschland, sondern auch über die Landesgrenzen hinweg nachhaltig mitgeprägt haben. Filme selbst als historische Dokumente zu behandeln, ist in den Kreisen der Geschichtswissenschaften verhältnismäßig jedoch nach wie vor Neuland – dabei ist es keine neue Erkenntnis, dass Medien und der historische Augenblick bzw. der soziokulturelle Kontext, der sie hervorbringt, eng miteinander verzahnt sind und spannende Rückschlüsse aufeinander zulassen.

Nicolai Hanning, Professor für Neuere Geschichte an der TU Darmstadt, Anette Schlimm, Gastprofessorin für Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Heidelberg, und Kim Wünschmann, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, filterten daraus die Idee, einen Sammelband herauszugeben, welcher das Medium Film im Sinne der Geschichtswissenschaften zu nutzen und zu deuten weiß. Dieser Band ist nun unter dem Titel Deutsche Filmgeschichten. Historische Portraits im Wallstein-Verlag erschienen. Gewidmet ist die Sammlung der (zwischenzeitlich emeritierten) Historikerin Margit Szöllösi-Janze, einer Pionierin auf dem Gebiet der Filmgeschichte. Das Buch versammelt 38 Essays verschiedenster Autor_innen, die sich jeweils mit einem Meilenstein des deutschen Films geschichtswissenschaftlich auseinandersetzen und somit zu dem Projekt beitragen, die historische Relevanz von Filmen zu verdeutlichen.

„Filme tragen ihre eigene historische Tiefendimension und machen das kollektive Imaginarium einer Gesellschaft sichtbar. Andererseits verschieben sie permanent das, was sie aufnehmen und darstellen, denn Filmemacher:innen rearrangieren dieses Imaginarium, sie unterhalten, können aber auch irritieren und provozieren“

Die Essays sind chronologisch nach Erscheinungsjahr der behandelten Filme sortiert, begonnen bei Wege zu Kraft und Schönheit aus dem Jahr 1925 und mit der ZDF-Produktion Schlafschafe von 2021 endend. Auf den ersten Blick sticht die Vielfältigkeit der selektierten Filme ins Auge: Massenschlager wie SCHTONK oder Der Schuh des Manitu sind ebenso vertreten wie kritisch hochgelobte Klassiker wie Metropolis oder Der Untergang, und sogar dem zeitgenössischen Durchschnittskinogänger vermutlich völlig unvertraute Titel wie 1. April 2000 oder Barbara sind vertreten. Auch einschlägige TV-Formate wie Edgar Reitz‘ berühmte Mehrteiler Heimat oder der heimelige Krimihit Mord mit Aussicht sind zu finden; ebenso kommen auch der deutschsprachige Raum insgesamt mit Sissi sowie die ehemalige DDR mit Solo Sunny nicht zu kurz. Angenehm fällt auf, dass der Horizont der Texte weit über die Weltkriege oder die Zeit des Dritten Reiches hinausgeht, die selbstredend zu den wichtigsten, aber eben nicht einzigen wichtigen Momenten der deutschen Geschichte gehören. Der ein oder andere englischsprachige Betrag vermittelt, dass die historische Beschäftigung mit deutschen Filmen auf akademischem Niveau durchaus nicht nur für in Deutschland ansässige Historiker_innen ein fruchtbares Feld darstellt.

Besonderes Merkmal des Buches ist aber nicht das lobenswert weite Spektrum der ausgewählten Filme, sondern vor allem die Bandbreite an Ansätzen und Gesichtspunkten, unter denen sie betrachtet werden. Neben recht geradlinigen Analysen werden immer wieder Bezüge zu einschlägigen Begleitumständen hergestellt und die Filme in deren Rahmen beurteilt, einzelne Aspekte der Produktion, der ästhetischen oder der rein technischen Ebene in den Vordergrund gerückt oder die Rezeption des jeweiligen Werks bzw. sein Einfluss auf die Gesellschaft kritisch in Augenschein genommen. Eine Abhandlung von „Männlichkeitsvorstellungen, Sexualität und Gesellschaftspolitik“ zu Michael Bully Herbigs Schuh des Manitu hat darin ebenso Platz, wie eine Erläuterung von Tieren als „strategische Unterhaltungsträger“ anhand des Beispiels Olympia, oder eine Chronik der verschiedenen Soundtrack-Fassungen von Fritz Langs Epos Metropolis. So erhält jeder Film sein ganz eigenes Schlaglicht (oder eben Porträt), mit dem die Autor_innen alle sehr individuell die Intersektionalität von Film- und Geschichtswissenschaft sowie deren Ausläufer herausarbeiten.

„Filmgeschichte, so wird deutlich, ist keine neue Sparte oder Subdisziplin der Geschichtswissenschaft. Vielmehr bietet sie die Möglichkeit, breit verstandene Gesellschaftsgeschichte zu betreiben, die Filme als historische Quellen aufgreift, bei ihnen aber nicht stehenbleibt. Filme sind historische Akteure eigenen Werts“

Ergänzt werden die Aufsätze durch ein Vorwort, welches knapp, aber präzise den Anspruch der Herausgeber_innen an diesen Band erklärt, sowie einen kurzen Anhang einschließlich Filmregister. Das ein oder andere Foto wäre wünschenswert gewesen, da Bilder immer willkommenes Begleitmaterial sind, wenn es um ein visuelles Medium geht. Insbesondere schade ist jedoch, dass die Essays allesamt sehr kurz ausfallen. Als Leser_in hat man häufig das Gefühl, nur an der Oberfläche zu kratzen. Man bekommt so zwar die verschiedensten Theorien und Methoden präsentiert, ein roter Faden, welcher die deutsche Filmgeschichte erhellt, kann sich jedoch nicht ergeben. Und leider teilt Deutsche Filmgeschichten ein Manko mit einem Großteil aller anderen ähnlich gelagerter Bücher: Ohne den jeweiligen Film gesehen zu haben, kann man eher wenig damit anfangen.

Fazit

Deutsche Filmgeschichten. Historische Portraits erfüllt den Auftrag, den die Herausgeber_innen sich aufgegeben haben: beispielhaft durchzuexerzieren, auf welch vielfältige Arten Filme erschlossen werden können und wie wichtig dies für die Geschichtswissenschaften sein kann. Eine tatsächliche deutsche Filmgeschichte erschließt sich der Leserschaft dadurch nicht – wohl aber wird ein Bewusstsein sowie viel Interesse für die enge Verzahnung verschiedener akademischer Disziplinen geweckt! Das Buch ist daher eher als Ausgangspunkt für weitere Recherchen zu empfehlen.

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